Alle außer das Einhorn – Rezension

Hinter dem neuen Grips-Stück für die späte Kindheit: „Alle außer das Einhorn“ von Kirsten Fuchs, in der Regie von Robert Neumann, verbirgt sich ein wirklich genialer Wurf über Cybermobbing.  Das Stück lässt die Kinder jubeln und die Erwachsenen erschüttert und aufgewühlt zurück.  Der Moloch, mit dem die Kinder kämpfen, von dem haben die Erwachsenen keine Ahnung.   Wenn die Erwachsenen Ratschläge geben, die Kinder sollten doch mal aus dem Netz „raus“ und lieber ins Leben „rein“ gehen, so wird deutlich, dass dies ein Ratschlag von Außerirdischen ist, denn die Kinder empfinden es umgekehrt , sie streben mit dem Internet „raus“, das andere hält sie gefangen und „drinnen“. Das Internet ist ihr Leben, dafür können sie nichts, das ist die heutige Gesellschaft, in die haben wir sie hinein geboren und das haben wir nicht verhindert, daher dürfen wir nicht mit ihnen moralisieren, sondern müssen uns mit uns selbst auseinandersetzen.

Eigene Bühnensprache

Der aus dem Grips-Ensemble hervor gegangene Regisseur Robert Neumann hat eine ganz besondere Handschrift, wie immer ist seine Inszenierung sehr wild, sehr schnell, verbindet moderne Elemente mit starken Verfremdungseffekten,  er hat auch eine eigene Bühnensprache, die  etwas Gewohntes auf einer anderen Ebene sinnlich erfahrbar macht, (hier ist das die Art, wie im Netz kommuniziert, gespielt, geschrieben und dargestellt wird) so dass sich dessen Charakter dadurch besser enthüllt.

Was ein Kind für Sensationen erlebt

Die Bühne ist sparsam, schwarz, ohne jegliches Mobiliar, hinter den Spielern eine breite, schwarze Querwand, die in roten und farbigen Leuchtpunkten, ähnlich Ampeln, rhythmisch, im Takt der Internetkommunikation aufleuchten.  Im Charakter ähnlich, maschinell und farbig, aber in der Art ganz anders, gewaltiger, auch ästhetischer, geben sie uns als Erwachsene aber eine Ahnung dessen ein, was ein Kind durch diese Kommunikation für Sensationen erlebt.

Wie Marionetten einen Tanz

Zu Beginn führen die Figuren, gebadet in rotem Licht, umgeben von gewaltiger Musik, wie Marionetten einen Tanz auf, in dem sie in langsamen, abgehackten Bewegungs-Sequenzen die Handlung des Mobbings, alle gegen einen, in schwarzen Standbildern vor rotem Grund tanzend vorwegnehmen.  Alsdann wird auf dieser Wand immer gespiegelt, was die Kinder auf ihren I-Phones tun. Die Leuchtpunkte blenden auf im Takt des Teilens, Schreibens, Abschickens und Sendens von Botschaften.

Brüllen Hassmails ins Publikum

Gleich zu Beginn wird auch sofort das Hauptmotiv vorgeführt, das Hass-Mobben: Zwei Figuren mit Tüten auf den Köpfen, die entfernt an KuKluxKlan erinnern, springen abwechselnd hinter dem Querstreifen oben hervor, womit kasperpuppenhaft, eine entfernte, hintere Ebene der Distanz geschaffen wird, und brüllen die Hassmails ins Publikum.  Diese treffen ein Mädchen aus „gutem Hause“, „Netti“, (sie hasst ihren Namen), sehr aufrecht gespielt von Luise Charlotte Schulz. Deren Eltern sind sehr nett, aber, wie das Mädchen findet, aus Sorge zu stark kontrollierend.

Geschickt der Lächerlichkeit preisgegeben

Die Hassmails müssen nun erklärt werden, da sie der Altersgruppe des Publikums und der betreffenden Kinder im Spiel, (ab 11) nicht entsprechen und daher vollkommen unklar bleiben müssen.  Da ihr Charakter meist sexuell getönt ist („Ich rasier dich hinten“) verwandelt sich das Mädchen kurzzeitig in eine erwachsene Frau, in Art eines Animiergirls eines Sexsalons oder einer  Fernsehsendung versucht sie auf witzige Art die Hassmail-Botschaften zu „erklären“, womit diese geschickt der Lächerlichkeit preisgegeben werden, aber sich auch ihr roher und boshafter Inhalt für alle erschließt.

Glanzleistung an Temperament und Darstellungskunst

Dann beginnt die Geschichte, die sich im Wesentlichen in einem Beziehungsdreieck abspielt, und in Schule, Bus, auf dem Nachhauseweg und einem Kostümfest spielt, für das das Mädchen Netti von ihren Eltern ein sehr ungewöhnliches Einhornkostüm bekommen hat, dass ihr unangenehm ist.  Da ist ein Junge, Julius, (köstlich tumb gespielt von Frederic Phung), der war vormals der Freund von Netti und läuft nun einer anderen Schülerin hinterher,  die den selbst ausgedachten Namen „Fever“ trägt (Amelie Köder, die in „Laura war hier“ eine Fünfjährige verblüffend glaubhaft spielte, gibt nun hier die Rolle einer frühreifen, aus Neid boshaften Vorpubertierenden, ebenso glaubhaft, ebenso überzeugend, Glanzleistung an Temperament und Darstellungskunst. ).

Ausgeschlossen werden ist richtig mies

Fever kommt neu in die Klasse und wird nun, („…wir sind umgezogen, weil ich übelst gemobbt wurde, dagegen ist alles, was ich mache, Kinderkacka….ausgeschlossen werden ist richtig mies, …da geht man voll kaputt drauf“) zur Anstifterin der Hass-Attacken.

Eine Schlinge um den Hals

Wie zunächst der frühere Schulfreund, dann weitere Klassenkameraden und dann bald viele andere, die das Mädchen nicht kennt, auf den Zug aufspringen und mitmachen, das Ganze also durch das Teilen blitzschnell seine Kreise zieht, im nächsten Moment  30, 50, 100 weitere Kinder in die Kommunikation involviert sind, wie sich da etwas wie eine Schlinge um den Hals des Mädchens mit dem Einhornkostüm zu legen scheint, wie das auf eine Katastrophe zusteuert, das wird hier mit viel Empathie und Verve dramatisiert.

Etwas nachzudenken für alle

Aber zweitens kommt es anders als man denkt und so geht die Katastrophe ganz anders aus als erwartet. Ein enormer Spannungsbogen von Anfang an, sehr überraschende Wendung, etwas nachzudenken für alle Eltern und Erzieher und für Kinder das Gefühl, hier werden wir verstanden, so ist es, genau das ist unser Leben!

Das Problem des Cybermobbing ist, erklärt einige Tage nach der Premiere in einer Nachbereitung ein Präventionsberater, dass es in immer jüngere Altersgruppen eindringt, entsprechend der Selbstverständlichkeit des Nutzens von internetfähigen Geräten,  dass die Gefahr den Kindern nicht klar ist und dass die meisten Eltern in Bezug auf das Internet falsch reagieren.   

Nicht die Kinder sind verantwortlich für das, was da geschieht, sondern wir, also können auch nur wir etwas ändern.  Ganz falsch ist die Wut, die viele Erwachsene dabei auf die Kinder entwickeln, denn der kindliche Drang, die Geräte beherrschen zu wollen, ist dem Leben gleichzusetzen, was bewältigt werden will.  Verbietet man ihnen dieses, stehen sie ohnmächtig  gegen die Welt. Also muss man sich als Erwachsener auskennen lernen. Dies kann durch die Kinder geschehen, und zwar, wie schon Erich Kästner riet: „Liebe Eltern, wenn Sie etwas nicht verstanden haben sollten, fragen Sie Ihre Kinder!“

Eine Neuauflage des Erwachsenen-Stückes „Eine linke Geschichte“ kam auch im Juni auf den Grips-Spielplan, zum Geburtstag des Volker Ludwig und gleichzeitig ihm zu Ehren und ihm zum Abschied

Er übergibt das Grips-Theater an Philipp Harpain. In ihr wird das  Kult-Stück von 1991 aus heutiger Zeit neu kommentiert und im 50. Jahr des Ohnesorg Mordes pünktlich aktualisiert  vorgelegt, ebenfalls unbedingt  lohnenswert!

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