The Tic code Rezension

in Mitgliederzeitung der Tourette-Gesellschaft Deutschland “Tourette Aktuell” Nr. 4

the tic codeEinen Tag vor der Preisverleihung gingen wir in einen beliebig ausgesuchten Film der diesjährigen Kinder-Berlinale. Danach waren wir so beeindruckt wie selten, wir hatten geweint und wir hatten gelacht, wir waren berührt. Wir liefen mit einer Menge von Leuten mit, wollten unbedingt mit den Regisseuren diskutieren, auch die Kinder kamen mit.  Mein 14jähriger Sohn setzte sich noch am selben Abend, ohne dass ich ihn dazu aufgefordert hätte, für geschlagene zwei Stunden ans Klavier, er wollte nicht mal kommen, als die Pizza im Ofen fertig war und aß diese später eiskalt, aber mit größtem Genuss, als er irgendwann erschöpft aber zufrieden aus seinem Zimmer kam. Was spielte er? Etwa das, was ihm der Klavierlehrer letzte Woche aufgegeben hatte? Nein, er spielte frei, er spielte und spielte, er spielte Jazz, ausgedacht, ohne Noten, angeregt durch die Musik des Films The Tic-Code, den man etwa übersetzte könnte: “Das Geheimnis des Tics”.

Kein üblicher USA-Film

Natürlich wollte mein Sohn ursprünglich gar nicht in den Film mitkommen, Kinderfilmfestspiele – dafür sei er viel zu groß, er wollte sich lieber mit seinen Freunden in der Wilmersdorfer Straße treffen und in einen der üblichen USA-Filme, meist irgendein Film, von dem man schon “überall gehört” hatte. Die Wirkung des Films war dann aber derartig, dass er später keine Minute zögerte, an dem Gespräch teilzunehmen, dass wir noch von sechs bis halb neun Uhr abends mit der Produzentin und ihrem Mann führten, und obgleich dieses überwiegend in Englisch stattfand, lauschten meine beiden Kinder (14 und 16 Jahre) dem Gespräch Wort für Wort und danach wollte keiner mehr allein zu irgendwelchen Freunden. Wir waren den ganzen weiteren Abend mit dem Eindruck dieses Films beschäftigt.

Lieber mit flachen Fingern spielen

Was war passiert? Was ist das erstaunliche an diesem Film, der verdient hätte, statt bei den Kinderfilmen unter den aller ersten beim Gesamt-Wettbewerb zu sein? Ein etwa 10jähriger Junge namens Miles ist ein kleines Musikgenie, er spielt wunderschön Klavier. Sein Problem ist allerdings, dass die Musiklehrerin in der Schule ihn zwingt, Münzen auf seine Hände zu legen und ihn immer wieder ermahnt, die Finger gekrümmt zu halten, er aber möchte lieber mit bewegten Händen und mit flachen Fingern einen freien Jazz-Sound improvisieren, so wie er es bei einem berühmten Jazz-Pianisten auf einem Video gesehen hat. Jede freie Minute nutzt er dazu, seine eigene Musik zu spielen, dafür darf er in einem Musik-Night-Club am Tag auf dem dortigen Klavier üben. Er lebt allein mit seiner Mutter, die sein Klavierspiel fördert und liebt. Der Vater kümmert sich nur wenig um ihm, obgleich er auch Musiker zu sein scheint, denn Miles erzählt ihm am Telefon mit großer Freude von seinem Spiel. Bei dem anschließenden Gespräch des Vater mit der Mutter kommt allerdings heraus, dass der Vater nicht etwa vorhat, seinen Sohn einmal zu besuchen, sondern dass er nur für eine halbe Stunde ein Treffen am Flughafen ausmachen möchte.

Einen Makel, für den sich der Vater schämt

Der Junge hat nämlich einen Makel, ein Stigma, was ihn für die sogenannte “normale” Welt “nicht vorzeigbar” macht, und der Vater schämt sich dafür. Der Sohn leidet unter Tics, unkontrollierbaren Zuckungen des Gesichts und manchmal auch des ganzen Körpers. Am Anfang sieht man nur das Auge leicht zucken, später zucken auch Mund und Kopf und immer wenn es ganz schlimm kommt, wenn er es besonders unterdrücken möchte z.B., dann zucken selbst die Hände und Arme. Mit ausgesprochener Feinfühligkeit ist hier ein Symptom nachempfunden worden, unter dem eine Anzahl von Menschen leiden, die von der übrigen Umwelt dafür mit der unglaublichsten Diskriminierung zu rechnen haben. Menschen mit dem Tourette-Syndrom, wie sich diese Erscheinung nennt, werden von frühester Kindheit an geärgert, ausgelacht und nachgemacht. Nicht selten finden sich diese Menschen später auf neurologisch-psychiatrischen Stationen wieder, manche von ihnen trauen sich niemals an die Öffentlichkeit.

Die befreiende Wirkung des Jazz

Im Laufe des Films, wo die unglaublich befreiende Kraft der Jazz-Musik daran deutlich wird, dass der Junge, immer wenn er am Klavier sitzt, nur noch verschwindend wenig unter den Zuckungen zu leiden hat, entwickelt sich eine musikalische Freundschaft zwischen dem Jungen und einem berühmten Saxophonisten. Dieser hilft Miles einmal gegen einen Jungen aus seiner Klasse, der ihn mit geradezu fanatischem Hass verfolgt. Während der Musiker noch mit dem verfolgenden Jungen spricht, wird deutlich, dass auch er das Tourette-Syndrom hat. Das verschlossene Gesicht des Klassen-Bösewichts weicht auf: “Was, Sie haben das auch?”, fragt er. “Was ist das? Wie macht man es?” Woraufhin ihm der Musiker klarmacht, dass dieses Zeichen nur besondere Menschen können, nur die, “die den Code kennen”, eine Gehirn-Botschaft, die sie alle miteinander verbindet.

Aus dem Anderssein “erwachsen

Aus dieser Ausgangslage entwickelt sich die Geschichte des Films, in der es der Drehbuchschreiberin, die gleichzeitig Produzentin und die Hauptdarstellerin des Films, nämlich die Mutter des Jungen ist, auf einzigartige und einfühlsame Weise, die besonderen Probleme solch eines in der Öffentlichkeit unbekannten “neurologischen Problems” für alle Menschen nachfühlbar deutlich zu machen. Und nicht nur das, dieser Film fordert kein sentimentales Mitleid heraus, sondern zunächst Erstaunen und dann Bewunderung für die besonderen Fähigkeiten, die den Menschen mit diesem Syndrom offenbar aus ihrem “Anderssein” erwachsen können. Damit begibt sich der Film in die Tradition der Filme wie “Jenseits der Stille”, die schließlich einer ganzen Bevölkerungsgruppe, in diesem Fall den Gehörlosen, zu Geltung, Bedeutung und Beachtung in den Augen des Publikums verholfen haben. Die Gehörlosensprache, bisher kaum bekannt, unter Pädagogen als isolierend verachtet und verfemt, wird in diesem Film erstmals als eine überaus differenzierte Sprache kenntlich, die es wert ist, auch von Hörenden gelernt zu werden.

Jazz und Tourette

Ähnlich hier: Die besondere Liebe zu Tönen und Musik, die für die Tourette-Zwänge so befreiend wirkt, verdeutlicht beispielhaft die befreiende Wirkung von Musik überhaupt, in diesem Fall der Jazz-Musik im Besonderen. So enthält dieser Film in mehrfacher Hinsicht Exemplarisches, was ihn über seine antidiskriminierende Botschaft bzgl. des Tourette-Syndroms hinaus für alle Menschen wertvoll und bedeutsam macht.Die Qualität der Musik (eine CD wird bald auf den Markt kommen) wird in diesem Film übrigens durch das besonders professionelle Arrangement eines echten Jazz-Musikers und seiner Band garantiert. Dieser ist zufällig oder nicht zufällig der Ehemann der Drehbuchautorin, seit seinem 19. Lebensjahr in der Jazz-Szene Amerikas berühmt und ebenfalls mit dem Tourette-Syndrom behaftet. Hierin liegt denn auch der Ausgangspunkt und Beginn der Filmidee, obgleich die Filmgeschichte nicht die Lebensgeschichte des Ehemannes ist.

Das unangenehme Zucken aus dem Film nehmen

Der Film enthält keine Spur von Kitsch und Unechtheit, wie wir es leidvoll aus fast allen Ami-Filmen gewohnt sind, trotzdem das Ende versöhnlich ist. Vielleicht hatte die Produzentin es deshalb so schwer, das Geld für den Film aufzutreiben, über 5 Jahre lang musste sie in Filmstudios betteln gehen, man sagte ihr, solch ein Film würde nie sein Publikum finden, und ob sie nicht dieses “unangenehme Zucken” aus dem Film herausnehmen könnte u.ä. Diese Probleme bekam sie, obgleich sie eine berühmte TV-Schauspielerin ist. Aber das Filmteam, nicht zuletzt sie und ihr Ehemann, ließen sich nicht entmutigen und schließlich fand sich das Geld, es wurde in einer Rekordzeit von sechs Wochen gedreht und inzwischen hat sich ein deutscher Verleih gefunden.

Nur schade, dass man diesen Film bei der Berlinale unter “Kinderfilm” eingruppiert hat, es ist sowenig ein Kinderfilm, wie “Jenseits der Stille” ein Kinderfilm war. Die Hauptperson ist ein Kind, aber die angesprochenen Probleme sind für Menschen jeden Alters einfühlsam und intensiv nachzuempfinden und darum höchster Kunstgenuss. “Mut bekommt man nicht durch das “Verspeisen eine Löwenherzens”, sagte Franz Fühmann, sondern indem man die Erfahrungen anderer teile, sehe, wie “der zu Boden Gedrückte Leid bewältigt”.  Wie wir uns heute dazu verhalten, abweisend, lächelnd oder anders, … entscheidet über uns Lebende. Über Unsere Fähigkeit, im anderen neben uns, in uns selbst Ansprüche zu erkennen und wach zu halten, die Kreativität bringen, Lebenssinn”. Sigrid Damm 1987 (Lit.-Kalender 1991, Aufbau Verlag) Der Film gewann am 22.2.1999 den ersten Preis bei den internationalen Kinderfilmfestspielen von Berlin! Er hätte auch bei den “Erwachsenenfilmen” gewinnen können!

Quelle:

The Tic Code

Regie: Gary Winick
Drehbuch, Produktion und Hauptdarstellerin: Polly Draper
Musik: Michael Wolff

Gewinner der internationalen Filmfestspiele in Berlin am 21.2.1999

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