Julius und die Geister im Grips – Rezension
28.1.11/ jw-Feuilleton
Auf der abgedunkelten Bühne im Berliner Grips-Theater steht ein hellblaues Rondell mit Bett, Schrank und Nachttisch, ein Kinderzimmer. Links daneben Thomas Keller am Akkordeon und Bettina Koch am Piano, sichtbar. Ein Erwachsener tritt langsam an das noch dunkle Bett heran.
Das Licht geht an und es beginnt eine packende Vorführung kindlichen Rollenspiels mit Kuscheltieren auf Seefahrt. Der Junge im Schlafanzug wirbelt alles herum, schreit, tobt, gerät außer Atem. Alle Kinder im Publikum sind nun davon überzeugt: hier agiert ein kleiner Junge in ihrem Alter, gebannt lachen sie, gehen mit, das alles passiert in nur drei Minuten. Was dem siebenjährigen Julius fehlt, erfindet er sich einfach: eine Traumfreundin wie Mirabella zum Beispiel oder einen Traumvater, denn sein richtiger ist verschwunden. Als er irgendwann ein Foto von ihm findet, auf dem der Name Georg Ritter steht, stellt er sich einen Ritter vor, der zu ihm ins Zimmer kommt, wenn er allein ist.
Gefühle gehören angesprochen
Volker Ludwig hat 2002 das Stück »Julius und die Geister« über imaginäre Freunde geschrieben. Thomas Ahrens hat es inszeniert. Einmal noch zeigt er, daß linkes, emanzipatorisches Kindertheater, genau wie linke Pädagogik vor allem die Aufgabe hat, Probleme der Kinder einfühlsam zu erspüren, anzusprechen, die dahinterliegenden Konflikte spielerisch aufzudecken und die Erwachsenenwelt durchaus in Frage zu stellen. Im Stück wird von Beginn an vorbehaltlos die Seite des Kindes eingenommen. Konflikte werden niemals ver-, sondern immer aufgedeckt. Die Formel ist so banal wie richtig: Gefühle gehören ausgesprochen, mitgefühlt, um verstanden zu werden. Es wird auf die Bühne gebracht, was Kinder sich sonst nicht zu sagen trauen, es wird zum Lied gemacht, was auf dem Schulhof kursiert, es wird gesagt, was sonst tief in einem verborgen ist. Das alles schafft Florian Rummel als Julius, allein durch die Kunst verschiedenster Gesichtsausdrücke.
Andere haben einfach ein Kind
So werden Vokabeln aus Pädagogikbüchern wie »Emphatie«, »Sozialkompetenz« und »Wertschätzung« mit konkretem Leben gefüllt, mit Witz und Freude, Ermutigung und Trost. Auch Florians Mutter hat Probleme. »Andere haben einfach ein Kind, ich habe ein Gespenst, einen Hund, einen Kapitän, warum kann er nicht normal sein?« singt sie zugleich genervt und ein wenig stolz im »Lied vom spinnenden Julius«. Doch dann ruft sie: Mein Junge ist nicht verrückt, der spinnt nur!« Ein wunderschöner Lobgesang auf die Kinderphantasie.
Du bist der, der mich nie besucht hat
Als plötzlich der Vater auftaucht, greift die Wirklichkeit die Phantasie an. Der Vater hat kein Wort der Erklärung dafür, daß er seinen Sohn sechs Jahre lang nicht besucht hat. Florian verweigert sich: »Du bist der, der mich nie besucht hat, der mir nie geschrieben hat, der mir nie was geschenkt hat, der mir nie ›gute Nacht‹ gesagt hat, der nie da war – ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich!« Und das obwohl alle wissen, was der Vater nicht weiß, wie sehr er ihn sich eben noch als Ritter herbeigewünscht hatte. Diese Szene hat etwas enorm Anrührendes. Danach ist der Saal mucksmäuschenstill. Doch nach der Pause finden Vater und Sohn einen ersten Weg zueinander, über das Phantasiespiel, daß der Vater wie kein anderer mitzuspielen vermag, schließlich wird auch Mirabella überflüssig. Gegen das immer wieder angesprochene und sich wie ein roter Faden durch die Geschichte ziehende Alleinsein von Kindern, gibt es leitmotivisch ein wundervolles Lied: »Freunde sind gute Geister, sie sind das Wichtigste und Schönste auf der Welt.« Und so steht am Ende auch die Erkenntnis, daß es zwar schwieriger ist, es mit echten Freunden aufzunehmen, mit echten Papas und echten schönen Freundinnen, aber dafür viel, viel schöner. Eben weil sie auch Probleme haben und machen und nicht perfekt sind – deshalb braucht man selber es dann auch nicht zu sein.