Zscherben – ein Dorf nimmt ab – Theater in Halle
Das Theaterstück in Halle beginnt damit, dass eine Art Fernsehmoderatorin mit den Zuschauern Klatschübungen durchführt, nach verschiedenen Hand- und Fingerzeichen werden Unmuts- und Beifallsbekundungen eingeübt. Das auf drei Rängen um die Bühne herumsitzende Publikum macht alles brav mit, auch die Aufforderung, dass sich alle umdrehen sollen und dem Hintermann die Hand geben. Erst als alle umgedreht dastehen und kein Hintermann mehr nach vorn gewandt vor ihnen steht, der die Hand noch geben könnte, wird der Unsinn dieser Aufforderung bewusst. Irritation, dann: „Wir arbeiten hier an einer Life-Sendung, die deutschlandweit ausgestrahlt wird, auf Sie kommt es an!“
In der Mitte ein Holzbankrondell, wie man es um Eichen herum auf Dorfplätzen hat, darunter ein Quadrat aus braunem Belag, das an Erde erinnert. Dorthin legen sich zwei dicke junge Männer in Billigsportjacken. Die Moderatorin geht aus dem Bild, die Bank mit den Männern fährt hoch und darunter kommt ein hell angeleuchtetes Fernsehstudio zum Vorschein. Hier schäumt der Chef: Die Quoten fallen und sein Redakteur soll mal wieder was Richtiges bringen, wo sich die Zuschauer gruseln können, er schlägt ein Folterexperiment, wie in Frankreich gezeigt wurde, vor: „Bißchen Schwachstrom unter die Achseln und den Brocken hochkraxeln! Ha, ha!“ Er lacht sich kaputt. Der Redakteur und seine Freundin schlagen etwas anderes vor, nämlich die übergewichtige Landbevölkerung im Osten einmal in den Blick zu nehmen, kontrolliertes Abnehmen zum Mitfiebern, es gäbe schon massenhaft Bewerbungen, ein Dorf sei in die nähere Auswahl gekommen. „Was wollen die denn als Gegenleistung?“, fragt skeptisch der Moderator, keine Falle? Wallraff, oder so?“ „Die Restaurierung ihrer Kegelbahn!“ „Was?“ Allgemeines Kaputtlachen der Fernsehmacher über so viel dämliche Bescheidenheit.
Dann kommt das Dorf in den Blick, die Eichenbank senkt sich, die dicken Jungs werden lebendig, essen Berliner Pfannkuchen und antworten und reden nur synchron (nachempfunden Tweedledee und Tweedledum bei Alice, einzigartig gut gespielt von Jonas Schütte und Wolf Gerlach) Der Bürgermeister beruft Versammlung ein, verliest den Brief mit der Zusage, alle freuen sich, tanzen, einer steigt aus, einer ersetzt ihn, alle sind übergewichtig, eine Meisterschaft der Kostümbildnerei, dieses echt und verschiedenartig aussehen zu lassen.
Wie sich im Laufe des Spiels die Naivität der Dorfbewohner den Medien gegenüber in Schlauheit, Witz und schließlich Gegenwehr umsetzt, ist hier Thema, während die Glattheit der Medienleute immer mehr bröckelt, um bald nur noch nackte Brutalität und mörderisch-kapitalistischen Konkurrenzkampf zu zeigen. In einer Komödie können die Schwachen siegen, in Wirklichkeit ist es leider nur in Revolutionen kurzzeitig manchmal so. Die Entlarvung steht hier im Vordergrund sowie die öffentliche Rehabilitation angeblich dummer Ost-Hinterwäldler. Ein spannungsgeladenes Stück mit vielen Lachern, das seinen Witz aus der absolut gut getroffenen Ähnlichkeit mit der hinter der oberflächlichen Wirklichkeit liegenden Wahrheit zieht.
Denn wohin man im Osten blickt: Vor der Wende traf man sich im Gutshaus zum Tanz, bei der Konsumfrau zum Telefonieren, beschäftigte sich in seiner Freizeit damit, aus seinen diversen Gärten Obst und Gemüse herauszuholen um sie gegen Geld bei der zentralen Sammelstelle abzugeben, wo sie dann in den nationalen DDR-Wirtschaftskreislauf eingegliedert wurden und seither ist das Gutshaus in seine Einzelteile zerfallen und überwuchert, ebenso alle Gärten, die übrig gebliebenen Apfel- und Kirschbäume sind in schwindelerregende Höhen gewachsen, werden nicht mehr geerntet, ein Nachbardorf wurde „zusammengeschoben“, junge Leute sind weggezogen, die Alten sind gestorben, viele haben die Hoffnung verloren. Ost-Dörfer nehmen wirklich ab, aber an Menschen, an Hoffnung, an Kindern.
Der Titel hat also zweierlei Bedeutung. Vordergründig geht es um eine Idee, geboren in den Schaltstellen der Medienriesen, eine Land-Realityshow zu bringen, die sich mit der beklagten Fehl- und Überernährung beschäftigt, hintergründig handelt es sich um einen „Sozialkrieg“, wo sich keine Völker gegenüber stehen oder Ethnien, sondern soziale Klassen, die durch die auseinanderklaffende Schere zwischen reich und arm ununterbropchen neu entstehen. Der Name des Dorfes ist einer nahegelegenen Hallenser Gemeinde abgeguckt, dessen Bürgermeister zu den Mitarbeitern des Theaters: „Ihr glaubt ja gar nicht, wie nah ihr dran seid an der Wirklichkeit. Ich muss jedes Jahr zehn Kinder bringen, damit die Schule nicht geschlossen wird, aber dieses Jahr habe ich nur neun… auch bei uns haben sie in diesem Jahr die Turnhalle gesperrt“
Die Zscherbener Kegelliebhaber im Stück schlagen sich tapfer, doch diese Bemühungen sind nicht medienwirksam genug, die sinkenden Quotenzahlen machen die Medienleute nervös, der Chef macht dem Redakteur Druck, dieser versucht sich besonders qualvolle Aufgaben auszudenken, der Zuschauer wird an seinen primitivsten Regungen gepackt, will Leiden sehen, Schmerzen und richtig „toll“ ist dann das Ausrasten des einen Dörflers (Hilmar Eichhorn, herausragend) über dem Lieblingsessen, dass er zehn Minuten schweißtriefend anschauen durfte, bis er sich endlich draufstürzte, um dann einen Zusammenbruch zu erleiden. Die Dörfler finden das anschließende Ableben des einen und den Krankenhausaufenthalt des anderen ihrer Kameraden nicht so witzig und kommen auf eine wirksame, widerständige Idee.
Wenn Theater die Welt darstellen soll, wie sie sein könnte, so wäre hier ein gutes Beispiel geschaffen worden, beißende Medienkritik mit großer Wertschätzung des kleinen Mannes in unseren vergessenen Dörfern, aufrüttelnd und Mut machend, unbedingt hingehen! Ein „Dorf“-Theater mit Biss, ganz ohne Kitsch, mehr wird nicht verraten!
Zscherben – ein Dorf nimmt ab, von Jörg Steinberg, im Neuen Theater Halle, Regie Matthias Brenner, nächste Vorführungen: 8. Mai, 15 Uhr, 19. Mai, 27. Mai, 11. Juni und 12. Juni, jeweils 19.30 Uhr.