Schöner wohnen im Grips – Rezension
5.9.11 / jw / Feuilleton
Schon vor dem Sommer verschickte das Berliner Grips-Theater Ankündigungen des neuen Programms in Form von Wohnungsanzeigen: »2-Zi-Whg. im angesagten Kreuzkölln frei, 47qm 436€, Abendsonne i.d. Kü.« oder »Barzahler sucht Häuser im Hansaviertel«. Am Freitag hatte das neue Stück »Schöner Wohnen« von Franziska Steiof Premiere, und am Samstag zogen 6000 Menschen gegen Mieterhöhungen durch die Berliner Stadtteile Neukölln, Kreuzberg und Treptow.
Im Grips am Hansaplatz war die Bühne ein stilisiertes, nach vorn offenes Haus. Unten im Keller haust Paule (Jens Mondalski), ein liebenswürdig-rauhbeiniger Punk mit Gitarre, Bierkasten und Gartenliege. Er singt zu Anfang »Da steht ein Haus in Moabit, allein noch mittendrin, ich habe mich hier eingewohnt…«, eine Coverversion von »House of the rising sun«. Darüber das Pärchen Anja (Nina Reithmeier) und Markus (Florian Rumnel), sie kleine Beamtin, er Handwerker, Sanitärbereich; die beiden planen ein Baby, sie lieben und sie langweilen sich. Daneben wohnt Adile (Katja Hiller), Topfrau mit »ihren Mädchen«, sie will alles schaffen, Erziehung ihrer Töchter, Redakteurin in kleiner Zeitung, zeitweise befreundet mit Cyrus (Robert Neumann), dem Aufsteiger neuester Kreation, ausgespuckt aus einem BWL-Studium. Gegenüber wohnt Harald (Thomas Ahrens), älterer Architekt. Ihm gehört heimlich das Haus, er verkauft es an eine Heuschrecke. Dazu Charlotte, laszive Studentin auf Abruf, mit dem Drang zum großen Geld jetzt, und Weltreiseambitionen.
Das Typische am Individuellen herausarbeiten
Diese Personen, deren Beziehungsprobleme dahinzuplätschern scheinen, steigern sich im Laufe des Stückes eruptiv zu historisch typischen Figuren hoch, die einem noch lange nach dem Ende des Stückes in Erinnerung bleiben. Und das geschieht durch den dialektischen Kniff, den das Grips wie kaum ein anderes deutsches Theater beherrscht, das Typische am Individuellen herauszuarbeiten. Und dazu die Wünsche, Befürchtungen, Sehnsüchte und Widerstandskräfte vieler wie in einem Brennglas zu bündeln. Wie das dramaturgisch und schauspielerisch umgesetzt wurde, ist großes politisches Theater. Wenn alle den »Eisern-Union-Song« von Markus mitsingen, wird aus dem vordergründigen Fußballfan-Lied ein erstaunliches Widerstandslied gegen Miethaie und Spekulanten.
Baustelle? Ist doch det Größte!
Interessant auch die Frauenrolle im Stück: Das Zusammenprallen von konventionellen (trautes Heim-Glück allein) mit moderneren Vorstellungen von Frauenleben (die alleinerziehende Alleskönnerin). Beides scheitert, aber bewährt sich auch, in dem schleichende Veränderungen stattfinden, kombiniert mit der Einsicht in deren Notwendigkeit. Klingt gewollt, ist aber gekonnt. Ohne Zeigefinger und ohne spektakuläre Ereignisse. Trotzdem gibt es immer Überraschungen, die Personen sind einerseits genau durchkomponiert, erscheinen aber andererseits wie zufällig ausgewählt. Tatsächlich werden hier wieder alle Gripsprinzipien erfüllt: Die Rollen durch winzige Kleinigkeiten typisch zeichnen und sie gleichzeitig unkalkulierbar halten. Immer gibt es Entwicklungspotential, wo kommt man her, wo geht man hin? »Baustelle? Das ist doch det Größte, da ist doch noch allet möglich!« sagt der Punk Paule.
Fragen kommen auf und bleiben hängen. Bei durchgängig sehr guter schauspielerischer Leistung werden neue und alte Klassen sichtbar, in unserer angeblich sonderbar nivellierten Gesellschaft. Mauern und Möglichkeiten, sie zu durchbrechen, werden gezeigt. Ein schöner Wurf. Am Ende kommt Hilfe durch Millionärsgeschenke und Einordnung in klein- und großbourgeoise Rollen, wir sollten diesen Weg aber nicht gehen, sondern lieber den des Widerstands.
Nächste Vorstellungen: 16.9., 17.9., jeweils 19.30 Uhr, Näheres hier: