Der Prozess – Rezension

serveImage Knasttheater Pr

jw / Feuilleton / 5.12.11

Die Bühne, an deren Rändern die Zuschauer sitzen, ist voll mit Papier. Bei näherem Hinsehen handelt es sich um Teile von Prozessakten, abgefaßt in einem Justizchinesisch, das man nur mit Hilfe von Rechtsanwälten versteht.

Als wäre das Gebäude gerade erstürmt worden, liegen die Blätter herausgerissen auf dem Boden, sie bedecken ihn ganz. Auch an der Rückwand kleben welche. Aus ihr lösen sich Schauspieler wie nächtliche Traumgestalten, trampeln in Schlafanzügen und Pantinen auf den Blättern herum, missachten damit die Autorität einer Gerichtssprache, die das normale Volk heute so einschüchtert wie zu Kafkas Zeiten. Wir befinden uns in einem modernen Knast in Berlin-Tegel. Alle Schauspieler sitzen hier ein.

Jeder Satz ein Vorwurf

Zunächst wird über den Josef K. aus »Der Prozess« geredet. Nachbarn, Freunde, Verwandte kommen zu Wort, wundern sich über seine Verhaftung oder wundern sich nicht. Jeder Satz ist ein Vorwurf. Noch die eigene Besorgtheit wird dem Verhafteten wütend vorgehalten. Seine Schuld bleibt nicht nur ihm unklar, auch den Zuschauern. Die kafkaeske Stimmung ist gut getroffen. Sie ähnelt der eines Dreijährigen, der ununterbrochen von Erwachsenen verlacht, grob angefasst, beschimpft, gegängelt und gemaßregelt wird und nie versteht, worum es eigentlich geht. Die Szene bricht ab: Musik, Jahrmarktatmosphäre, einer stellt seine Mitspieler wie in einem Zirkus vor. Das entspricht Brechts Forderung, den Schauspieler deutlich von seiner Figur abzugrenzen.

Dann wird unter Perücken über Josef K. getratscht: »Ich finde Gerichtssachen sehr interessant!« »Ich finde Gerichtssachen auch sehr interessant!« »Das Fräulein Bürstner ist schon öfter nachts mit fremden Herren spazierengegangen und dabei auch gesehen worden!« Auch diese Szene bricht ab. Es geht jetzt ohne Perücken weiter, Josef K. kommt zu Wort. Rüde werden die Passagen aus der Romanvorlage kommentiert: »Mach den Scheiss mal aus, ich versteh das hier überhaupt nicht!« Der Gesamteindruck zerfällt nicht, im Gegenteil.

Ihr hattet doch Aussichten befördert zu werden

Steven Mädel gehört erst seit einigen Monaten zum Ensemble, wollte aber schon als Kind Theater spielen. Eine seiner vielen Rollen ist die Vermieterin Grubach: »Es muss also im Sinne des Mieters sein, die Pension reinzuhalten!« Herrlich, wie er den Kopf nach hinten wirft, die Lippen schürzt und das Publikum anbrüllt. Er spielt Frauen- und Männerrollen mit viel Kraft, wütend, sehr variationsreich, bekommt oft Spontanapplaus. Einmal wendet er sich an die echten Schließer im Raum, brüllt ihnen Kafka entgegen: »Ihr habt doch…, ihr seid doch alle Beamte, ihr hattet doch Aussichten, befördert zu werden!« Das ist stark.

wie Schmerz unter der eigenen Haut

Das Traumhaft-Groteske ist gut herausgearbeitet. Als Josef K. sich zu verteidigen versucht, wird er zum Ankläger eines kleinen Beamten gemacht. Er will das nicht, schwächt seine Worte ab, muß aber der Misshandlung dieses Beamten beiwohnen, soll sogar dessen Henker werden. So schließt sich der Teufelskreis: Ob Josef K. redet oder schweigt, leugnet oder gesteht – er macht sich mehr und mehr schuldig. Das wird sehr authentisch rübergebracht. Obwohl die vorgeführten Demütigungen nur darin bestehen, im Kreis zu gehen, zu piepsen oder gekniet wippen zu müssen, spürt man die Erniedrigung wie einen Schmerz unter der eigenen Haut. So wird das von Darstellern am Bühnenrand auch kommentiert: »Ey Mann, lass dir das nicht gefallen!« Gewalttaten werden rein verbal ausgeführt: »Na los, mach schon, hopp, sag, daß du ein verfressenes Schwein bist!« »Ich bin ein verfressenes Schwein!« »Lauter, ich hab nichts gehört!« Und dann das Flehen und Katzbuckeln, die Anbiederung des Gequälten: »Bitte Herr, ich will Prügler werden! Lassen Sie mich Prügler werden, so wie Sie!« So rücken Gedemütigte nach oben auf.

Das Stück ist eine Collage aus Auszügen des Kafka-Romans und Texten, die den Schauspielern dazu eingefallen sind. Der Aufführungsort sorgt für zusätzliche Spannung. An den Ausgängen sitzen stocksteif die Schließer, klatschen nicht, fragen sich, ob sie lachen dürfen, lauern, bewachen. Sie sind im Dienst. Was das heißt, wird auf der mit Paragraphenblättern zugemüllten Bühne verhandelt, auf der die Darsteller nur eine relativ freie begrenzte Zeit verbringen.

In Plastiksäcken in der Stadt verteilt

Kurz werden auch kriminelle Karrieren von heute karikiert. Nacheinander stellen sich vor: ein Drogen-, Waffen- und Frauenhandelskonzernchef mit Jacht und Villa, wohnhaft Elb­chaussee Hamburg, die Kinder studieren in England und den USA; ein Friseur, der sich selbst zum Arzt weiterbildete und 43000 Operationen durchführte, sowie ein Teenager, der bei Ebay ein Hemd für 30 Euro versteigerte und den Käufer, als der nur 15 bezahlen wollte, erschoss, mit dem Messer traktierte und in Plastiksäcken in der Stadt verteilte.

Da hat ihn doch der Türsteher betrogen

Auch Ugur Türün hat das Zeug zum Profischauspieler. Sein türkisch-deutscher Mutterwitz verhilft dem Stück zu Volksnähe und läßt das Publikum toben. Als Kafkas aus dem »Prozeß« abgeleitete Novelle vom Türsteher zitiert wird, empört sich Türün: »Ja, da hat ihn dann doch der Türsteher betrogen!« »Nein, das verstehst du nicht, das ist anders gemeint, so kann man das nicht sagen.« »Na klar, Mann, da hat ihn der Türsteher betrogen!« Das könnte eine Auslegung im Sinne Kafkas sein, der diesseits von literarischen Symposien verstanden werden wollte. Die Mühsal der Entrechteten hat er geschildert, ihr Ausgeliefertsein angeprangert. Und als Jurist in seiner Versicherungsanstalt versuchte er, Arbeitsschutzgesetze für Industriearbeiter durchzusetzen, wie sie gerade wieder Stück für Stück abgeschafft werden. Wie sollte Kafka da nicht aktuell sein?

Die Regisseure Dirk Moras und Krzysztof Minkowski haben vor dem »Prozeß« schon drei Stücke zum Thema Verbrechen im Frauenknast Berlin-Pankow inszeniert und im vergangenen Jahr eine »Ilias«-Adaption mit Flüchtlingen. Ihre Arbeiten sind Appelle gegen Willkür und Unrecht.

Nächste Aufführungen: 6. und 7.12. in der JVA Berlin-Tegel, Karten über Gefängnistheater Aufbruch oder Volksbühne, sie müssen mehrere Tage vorher  bestellt werden!

Ein Gedanke zu “Der Prozess – Rezension

  1. Hallo ihr Lieben ,,
    ich wollte mall ganz höflich nach fragen ob ich von euch noch eine CD ( Der Prozess )
    haben könnte ?
    mfg.
    U .Türün

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