Neue deutsche Erziehung
8.8.12 / junge welt / Feuilleton
Morgens im Zugabteil. Zwei Kinder, zirka sechs und vier Jahre alt, Mutter und Vater reden auf die Kinder ein.
Mutter: Toni, wenn das jetzt schon anfängt, dann setz ich dich beim nächsten Bahnhof raus, dann kannst du den Rest des Weges zu Fuß gehen!
Vater: Guck mich an, wenn du mit mir sprichst!
Mutter: Hör zu, schau mich an, quatsch nicht!
Vater: Ich setz mich gleich in ’nen anderen Zug rein, du bist einfach nur ’ne Plage!
Mutter: Toni, es reicht! Leise! Die anderen Leute wollen nicht gestört werden!
Vater: Ich geh gleich zum Schaffner! Paß nur auf, der setzt euch an der nächsten Haltestelle raus!
Mutter: Halt den Sabbel!
Vater: Scheiße! Muss man alles wiederholen?! Setz dich hin, verdammt!
Mutter: Es reicht jetzt! Bist du ruhig?!
Die Stimmen der Kinder hören sich leise bittend an – fast ist es beruhigender Singsang für ihre aufgeregten Eltern. Die Kinder bewegen sich kaum, sie sitzen auf ihren Plätzen wie angenagelt. Aber durch niemanden in der Welt scheinen sie sich ihre kindlichen Fragen abzugewöhnen. Über alles, was sie draußen so sehen: Züge, Bäume und Hubschrauber, wollen sie ihre Eltern befragen. Für ihre Eltern ist das zuviel. Ich begreife, wie kalte Menschen gemacht werden.
Mutter: Ich knall’ dir gleich eine, geh mir nicht auf den Sack!
Vater: Seid endlich leise!
Älteres Kind: Papa? Da … der orange … Hubschrauber.
Vater: Ja, der ist tot.
Ich halte es nicht mehr aus. Ich sage, daß mich die Kinder gar nicht stören würden. Die Eltern sprechen jetzt leiser ihre Ermahnungen. Sie zischen auf ihre Kinder ein. Die Mutter tippt etwas auf dem Handy.
Älteres Kind: Mama, kannst du mir mal…?
Jüngeres Kind: Mama, was hast du geschrieben?
Keine Reaktion. Also auch keine Ablehnung. Davon ermutigt, fragen die Kinder weiter. Der Vater findet wieder zurück zu seiner schlechten Stimmung und droht seinen Kindern, sie aus dem fahrenden Zug zu schmeißen. Ersatzweise zeigt ihnen die Mutter ein Spiel im Handy. Das ist das erste Mal, daß sie sich ihren Kindern auf eine andere als eine unfreundliche Weise nähert. Nun schauen die Kinder nicht mehr nach draußen und fragen, sondern beschäftigen sich mit dem Handy.
Jüngeres Kind: Mach das noch einmal!
Mutter: Nein, lass mich in Ruhe!
Die Kinder imitieren und wiederholen die Gemeinheiten der Eltern, wie andere Menschen mathematische Formeln auswendig lernen. Dazu schieben sie sich Kekse in den Mund.
Mutter: Weißt du nicht mehr, wie du weiteressen sollst? Iiiehhh, ich will nicht dein Angeknabbertes! Guck mal, Papa!
Älteres Kind: Papa? Das wollte ich…
Der Vater reagiert nicht und hält das sicher für eine pädagogische Maßnahme. Das jüngere Kind holt einen Teddy aus der Tasche.
Mutter: Was willste damit?
Vater: Paß auf!
Mutter: Schnauz mich nicht an! Sonst schnauz ich zurück!
Kein Kind hat sie angeschnauzt. Sie ist nur genervt von jeder Bewegung ihrer Kinder, von jeder Geste, von jedem Wort. Sie hat streng nach hinten gesteckte Haare, wie einst meine Großmutter die Haare trug, dazu einen chronisch strengen Gesichtsausdruck. Sie sieht brutal aus, wie ihr Mann. Eigentlich sind die beiden sehr jung. Ihre Gesichter wirken grau. Voller Resignation und ständig unterdrücker Wut.
Älteres Kind: Was soll ich denn sagen?
Vater: Halt die Klappe!
Die Mutter dreht sich mit dem Rücken zum älteren Kind, zum Zeichen, daß es sie nervt. Dann kommt die Zugdurchsage: der nächste Bahnhof. Das ältere Kind versucht, den Ortsnamen zu wiederholen.
Mutter: Was stotterst du denn?
Älteres Kind: Äh, Altenburg.
Mutter: Quatsch: Angermünde!
Die Gesichter der Kinder sind fast ausdruckslos. Sie sind die andauernden Beleidigungen gewöhnt, die sie immer wieder vergessen müssen. Wenn sie angeschrien werden, dann lachen sie leise wie in einer Übersprungshandlung. Nun fangen sie an, sich gegenseitig zu kitzeln. Das geschieht sehr verhalten.
Vater: Ruhe! Hört auf! Setzt euch normal hin!
Mutter: Nein, nein, nein. Jetzt ist es gut!
Die Kinder lachen immer noch. Sie können nicht aufhören.