Hier eine Rezension zur Vorab-Info
Die Frau meines Vaters – Erinnerungen an Ulrike
Autobiografischer Roman über eine Kindheit in der Adenauer-Ära mit Erinnerungen an Ulrike Meinhof.
Originalveröffentlichung Gebunden mit Schutzumschlag, ca. 160 Seiten ca. € (D) 18,– € (A) 18,50 €, hier ansehen, hier bestellen, danke!
Der autobiografische Roman der Autorin Anja Röhl: “Die Frau meines Vaters”, ist eine literarische Verarbeitung von Kindheitserinnerungen mit dem Schwerpunkt: Naherinnerungen an Ulrike Meinhof, die Mutter ihrer Halbschwestern, als diese noch Journalistin war. Diese Erinnerungen werden auf dem Hintergrund von Erlebnissen in Erziehungsinstitutionen, dem Postfaschismus der Adenauer-Ära, fehlender Elternkompetenz der Kriegs- und Führerkinder, und der Zeit der Studentenproteste während des Kalten Krieges chronologisch aufgeblättert. Dies geschieht aus Sicht eines Kindes, einer Jugendlichen, dann einer jungen Frau, in Hamburg-Barmbek, in Westdeutschland, zwischen 1958 und 1976.
Im 50.Todesjahr von Benno Ohnesorg ist diese Veröffentlichung mit dazu angetan, dass Bild der ersten Generation der Intellektuellen, die es wagten, die wieder in Amt und Würden, oft ganz nach oben gekommene Nazigeneration zu kritisieren und dafür einer massiven Welle von Staatsgewalt ausgesetzt waren, differenzierter zu betrachten und einen neuen Blickwinkel zu ermöglichen!
Buch im Nautilusverlag, demnächst als Paperback
Interviews und Referenzen/Rezensionen:
27.2.13: Interview: WDR 5 Scala: Aktuelles aus der Kultur WDR 5-Radio-Interview:Anja Röhl über ihr Buch „Die Frau meines Vaters- Erinnerungen an Ulrike (Meinhof)“ Moderation Jörg Biesler © WDR 2013
27.2.13: “Sie hat sich ausgezeichnet dadurch, dass sie gut zuhören konnte” Ulrike Meinhof aus der Perspektive eines Kindes in dem Buch “Die Frau meines Vaters”
http://scharf-links.de/45.0.html?&tx_ttnews[cat]=21&tx_ttnews[tt_news]=9563&tx_ttnews[backPid]=45&cHash=b84e2fb09b
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http://www.ossietzky.net/7-2013&textfile=2229
http://www.literaturkritik.de/
http://www.tagesspiegel.de/kultur/ulrike-kann-alles-erklaeren/8494866.html
http://www.diedrei.org/2013/
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0008.ht
Weitere Auszüge aus Pressestimmen unter:
http://www.edition-nautilus.de/programm/belletristik/buch-978-3-89401-771-2.html
Ulrike Marie Meinhof –
Biografien:
Eine Doktorarbeit aus Finnland, wissenschaftlich, gut lesbar, mit vielen Originalzitaten und abgesicherten Belegen, ins deutsche übersetzt 2010:
Journalistische Arbeit, im Stil eines historischen Romans, sehr gut recherchiert:
http://www.jutta-ditfurth.de/ulrike-meinhof/Klappentext.htm / 2007
Originalliteratur:
http://www.wagenbach.de/autoren/autor/92-ulrike-marie-meinhof.html
Feature mit Originalstimme:
http://www.ubu.com/sound/meinhof.html
Lebenslauf:
Geboren 1934, Studium der Pädagogik und Philosophie, als Kind einer Lehrerin und eines Kunsthistorikers, nach dem frühen Tod der Eltern, erzogen von Renate Riemeck, einer Professorin für Geschichte, ab 1960 Entwicklung zu einer engagierten Journalistin, Chefredakteurin und Kolumnistin beim Konkret-Magazin für Politik und Kultur, früher Einsatz gegen die Wiederbewaffnung mit Atomwaffen, öffentlicher Einsatz für die friedliche Annäherung zur DDR und freie Wahlen in ganz Deutschland, Engagement und Aufklärung zur Situation der Heimkinder, dazu Hörfunkfeatures, sowie zahlreiche Fernsehauftritte. Erste Interviews mit sog. Fürsorgezöglingen, Aufdeckung der strukturellen Gewalt, die in derartigen Heimen herrschte, darüber ein Buch, ein Film: Bambule, über den Berliner Eichenhof. Kolumnen gegen die westdeutsche Mithilfe beim Vietnamkrieg, gegen die Nichtverurteilung und Rehabilitation von Nazi-Verbrechern, Kritikerin der Bonner Politik der Kontinuität der NS-Politik in der Bundesrepublik Deutschland, speziell der Notstandsgesetze.
Kritikerin repressiver Erziehungsmethoden. Argumente und Einsatz gegen die Verschärfung der staatlichen Repressionen gegen die Studenten. Teilnahme an der 68/69- Studentenbewegung für eine demokratischere und friedlichere Welt und gegen den Vietnamkrieg, mit 2 Millionen ziviler Opfer. Mahnerin vor der drohenden Refaschisierung der West-Republik ab 1956/58, dem Mord eines Demoteilnehmers und weiterer Verschärfung staatlicher Gewalt gegen Andersdenkende ab 1967/68, nach dem Polizistenmord an Benno Ohnesorg und dem Attentat auf Rudi Dutschke, dem monatelange Morddrohungen in den Boulevardzeitungen vorausliefen. Weitere Entwicklung zu einer immer entschiedeneren politisch engagierten Journalistin, öffentlichen Mahnerin und Anklägerin ungerechter Zustände.
Von 1970 bis 1972 Mitglied der Stadtguerillabewegung raf, deren Maxime war, dass es nicht noch einmal vorkommen dürfe, dass die Bevölkerung staatlicher Gewalt ohne Gegengewalt hilflos ausgesetzt bleibt. Die Politik der raf und des zweiten Juni hatte zu Beginn ihrer Arbeit (laut Spiegel-Umfrage unter 85 % der Bevölkerung Sympathien, allein in Berlin sympathisierten über 40.000 Menschen. In diesem Zusammenhang wurde Ulrike Meinhof zum Staatsfeind Nr. eins erklärt, und nach einem Knie-Schuss auf einen Institutsangestellten, den ein anderer abgefeuert hat, der niemals gesucht wurde, und dessen Namen man bis heute nicht mal kennt, hat man auf ihren Kopf 10.000 DM angesetzt und ihren letzten Film, einen kritischen Film zur Heimkindproblematik, für über 20 Jahre verboten.
Die RAF verstand sich als revolutionäre Organisation, die auf die staatlich immer mehr zunehmende Gewalt gegen den wachsenden Widerstand gegen linken Protest reagierte. Sie strebte an, gegen Gewalt hervorbringende staatliche Strukturen bewaffnet zu kämpfen, auf diesem Weg die Revolution zu befördern und das Privateigentum an Produktionsmitteln abzuschaffen, mit dem Ziel, eine gerechtere basisdemokratische Gesellschaft zu erreichen. Sie geriet in Isolation und wurde staatlicherseits zur Terrororganisation erklärt. Sie entwickelte dann auch selbst autoritäre und zT diktatorische Strukturen. Die Gewalt, die von ihr ausging, verselbstständigte sich und forderte, nachdem der Staat zu Hinrichtungen ihrer Mitglieder schritt, auch selber Tote.
Im Zuge nachfolgender Eskalation und politischer Isolation, 1972, Verhaftung, dann in Isolationshaft bis 1976, in der Nacht vom 8. auf den 9.5.76, Tod durch Erhängen. Nach Meinung einer internationalen Untersuchungskommission ist der Tod durch Fremdeinwirkung schon vor dem Erhängen eingetreten.
Aktuelle Stimmen:
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0237.html
Stammheim 41. Prozesstag:
https://www.youtube.com/watch?v=s_MBW_RZNMo
Literatur zu Ulrike Meinhof:
Ulrike Meinhof (Journalistin) über das Elend der Heimkinder: Im Hörfunkfeature und im Film: Bambule (“Schlimmer als im Gefängnis!”) Sie war die erste seit 1933, die sich öffentlich gegen die weiter offiziell geduldeten und konkret praktizierten Nazimethoden in der Heimerziehung wandte, ihr Film darüber: “Bambule“, blieb ab 197o für über zwanzig Jahre verboten, sie starb 1976 im Gefängnis Stuttgart Stammheim, nachdem sie am 41. Prozesstag in Stammheim die damalige Justiz als Gesinnungsjustiz und die Umstände der Unterbringung und Behandlung der Gefangenen als Folter bezeichnet hatte.
Ulrike Meinhof: Eigene Bücher: Wagenbachverlag
Ein Artikel von Ulrike Meinhof aus dem Jahre 1962, in dem sie über das Selberdenken und das Alter in einer zukünftigen Bundesrepublik nachdenkt:
Pressebericht zum Roman: Die Frau meines Vaters, von Anja Röhl, 17.03.2016 18:12 Uhr, in: Oberhessische Presse (OP-Marburg)
Anja Röhl über Erinnerungen an Ulrike Meinhof
Bemüht um eine andere Sicht
An die hundert neugierige Besucher fanden den Weg in den Wintergarten des Technologie- und Tagungszentrums. Zu Gast war Anja Röhl, die Stieftochter von Ulrike Meinhof.
Anja Röhl stellte ihre Erinnerungen an die RAF-Mitgründerin Ulrike Meinhof vor.
© Wolfgang Dietz
Marburg. Anja Röhl, 1955 geboren, ist die Tochter der Journalistin Bruni Röhl und des „Konkret“-Gründers Klaus Rainer Röhl. Der Titel ihres Buches „Die Frau meines Vaters“ bezieht sich aber nicht auf ihre leibliche Mutter, sondern auf Ulrike Meinhof, die ihr Vater 1961 in zweiter Ehe heiratete.
Die wenigsten Besucher ahnten vermutlich, welch herausforderndem Vortrag mit anschließendem Podiumsgespräch sie beiwohnen würden, der emotionale Grenzbereiche berührte.
Ulrike Meinhof bildet den roten Faden der Lesung. Exponiert, stets im Spannungsfeld und – zuweilen – Leuchtfigur. Der starke und doch auch tragisch am Leben gescheiterte Mensch auf der einen – Staatsfeindin, Mitbegründerin und Aktivistin eines radikalisierten RAF-Kernes Anfang der 70er Jahre auf der anderen Seite. „Die Tote nicht vergessen“ ist eines der Leitmotive des Buches.
Spot wandert durch die Alltagsszenen
Der Beginn der Aufzeichnung überrascht. Chronologisch und ganz ohne Pathos entblättert Anja Röhl die beklemmenden Kindheitswahrnehmungen. Heranwachsen. Sehnsucht nach Papa, nach Zuwendung. Zeitweise schickt man das Kind in eine Heim-Anstalt.
Es ist repressive, düstere Wirklichkeit für hunderttausende Waisen und Heranwachsende in einer noch fragilen, ideologisch weder im Inneren noch im Äußeren ausbalancierten BRD der 1960er Jahre. So nah, so wahr wirken die Berichte, stilistisch betont durch den pointiert-personalen und dadurch Abstand schaffenden Erzählstil.
Minutiös wandert der Spot durch die Alltagsszenen. Erste Begegnung mit Ulrike Meinhof, der „neuen Freundin“. Der Weggefährtin, die auch zuhört, die ermutigt und Antworten hat. „Was die für Sachen sagt“, denkt das Kind. Und es folgt das schonungslose Ausleuchten des Menschen Ulrike aus sehr nahem Blickwinkel.
Selbst den Abschied Ulrike Meinhofs, ihren finalen Bruch mit Familie und bürgerlicher Welt kommentiert Anja Röhl nicht. Vielmehr betrachtet sie. Schildert tiefe Hilflosigkeit und gründliche Konsternierung als junge Frau, die von der Festnahme erfährt. Ihre Angst, Ulrike Meinhof werde womöglich auf der Flucht erschossen. Ihre Besuche im Gefängnis, stets observiert, und schließlich ihr Zusammenbruch, als sie von deren Tod erfährt.
Viele junge Zuhörer im TTZ
Es ist ein bedrückendes Buch – in jeder Zeile jedoch bemüht um klare Sicht. Eine sehr besondere, persönliche Familientopographie, die die reine Mediensicht auf Ulrike Meinhof niemals zuließe. Schwärzungen im Text des Buches erinnern an die juristisch verminte und erkaltete Beziehung zu den Töchtern Ulrike Meinhofs. Es sind redaktionell ganz bewusst im Text belassene Zeichen der zerrissenen Familie.
Anja Röhl ist eine Zeitzeugin, ihr Buch ein Zeitdokument auch für viele junge Zuhörer, die anwesend waren. Menschlich wie intellektuell ist sie durch Ulrike Meinhof geprägt, die übergroße Protagonistin. Die Frau, die in den mörderischen Kampf zog gegen den Staat.
Doch wirkt es allemal so, als könne Anja Röhl in Frieden berichten. Nicht kommentierend, nicht anklagend. Trotz der emotionalen Wucht an den entscheidenden Wendemarken der Vita. Stärke? „Ja, stark, das war sie!
Und dies ist zugleich auch die Hoffnung. Stärke, die sich weiter tragen lässt, ungefärbt“, sagt Anja Röhl. Nicht Doktrin, nicht Forderung. Aber Haltung. „Wir können Entscheidungen treffen“, sagt sie zum Schluss, „zum einen oder auch zum anderen hin.“
Anja Röhl ist Mutter dreier Kinder. Sie ist examinierte Krankenschwester, Dozentin und Theaterrezensentin. Sie studierte Germanistik, Psychologie, Sozialpädagogik sowie Kunst und lebt in Berlin.
- Anja Röhl: „Die Frau meines Vaters. Erinnerungen an Ulrike Meinhof“, Edition Nautilus, 160 Seiten, 18 Euro.
von Wolfgang Dietz
INTERVIEW/008: Ulrike Meinhof – Im Spiegel der Erinnerung, Anja Röhl im Gespräch (SB)
Gegen das Bild der Rabenmutter angeschrieben
Interview mit Anja Röhl am Literaturhaus Schleswig-Holstein in Kiel am 7. April 2014 (leicht korrigierte Fassung)
Wer sich an einer Person wie Ulrike Meinhof abarbeitet, tut das immer auch an der Zeitgeschichte – und an sich selbst. Kaum eine Erscheinung in der bundesrepublikanischen Geschichte nach ’45 hat die Nation und ihre Menschen so gespalten wie die RAF und Ulrike Meinhof als einen ihrer führenden Köpfe. Sie wurde als Staatsfeindin verteufelt, verfolgt und verurteilt, wegen ihrer präzisen politischen Analysen sowie ihres gesellschaftlichen Engagements gegen Mißstände aber durchaus auch wertgeschätzt. Positives zu berichten tun sich die meisten dennoch schwer. Zu leicht handelt man sich den Vorwurf eines rechtswidrigen Sympathisantentums ein oder Schlimmeres. Dabei läßt sich niemand aus der RAF allein auf den ohnehin fragwürdigen Terrorismusbegriff reduzieren oder ausschließlich darin unterbringen. “Keine öffentliche Figur in diesem Land ist dermaßen unter Legenden, Mythen und Fälschungen begraben wie Meinhof”, urteilt die Mitbegründerin und ehemalige Vorsitzende der Partei Die Grünen Jutta Ditfurth, die 2007 eine Biografie zur Person vorgelegt hat. [1]
Einen sehr privaten Blick der Erinnerung hat im letzten Jahr Anja Röhl mit ihrem Buch “Die Frau meines Vaters” preisgegeben. [2] Die Tochter des Konkret-Begründers Klaus Rainer Röhl aus erster Ehe lernte Ulrike Meinhof als die neue Freundin und spätere zweite Ehefrau ihres Vaters schon als Kind kennen – und war beeindruckt. Sie sei die erste Erwachsene gewesen, die ihr zuhörte, ohne sie zu bevormunden, die ihr eigenständiges Denken förderte und sie zum Widerspruch ermutigte, die ihr mit Wärme und Anteilnahme begegnete. In der Zeit der ausgehenden 50er und beginnenden 60er Jahre, als Prügelstrafen in Schulen, Heimen und Elternhäusern noch selbstverständlich waren und Mädchen in Hosen ein Unding wahrlich keine Selbstverständlichkeit im Umgang mit Kindern.
Foto: © 2014 by Schattenblick
Die Veröffentlichung des Buches, das auch eine Erinnerung an die eigene Kindheit und ein Sittengemälde der Bundesrepublik dieser Zeit ist, war nicht unumstritten und hat einige rechtliche Auseinandersetzungen hinter sich. Anläßlich einer Autorenlesung im Literaturhaus Schleswig-Holstein am 7. April traf der Schattenblick Anja Röhl im Alten Botanischen Garten in Kiel zu einem Gespräch über das Buch, seine Entstehung, ihr Verhältnis zu Ulrike Meinhof und ihren eigenen Weg.
Schattenblick (SB): Was hat den Zeitpunkt des Schreibens und des Publizierens deiner “Erinnerungen an Ulrike” bestimmt?
Anja Röhl (AR): Ich bin mit diesem Buch lange schwanger gegangen. 2003 gingen meine Kinder aus dem Haus und dann habe ich mich intensiv damit befassen können. Ich habe eine Weile gebraucht, um es in eine Form zu bekommen, die mir gefällt. Es ist ein subjektives, ein belletristisches Buch, also kein Sachbuch. Ich habe mir Mühe gegeben, es so zu schreiben, daß es verstanden wird, denn ich musste gegen ein anderes Bild Ulrike Meinhofs anschreiben, das auch aus dem nahen Familienbereich her gezeichnet worden ist, da braucht man ein bißchen. Es hängt auch damit zusammen, daß ich mich, als meine Kinder heranwuchsen, ihren Fragen stellen mußte. Es konnte ihnen nicht entgehen, daß dazu in unserer Familie kontroverse Meinungen existierten.
SB: Wie geht man nach so langer Zeit mit dem Problem der Erinnerung um, die ja bruchstückhaft, selektiv und zwangsläufig auch immer interpretiert ist. Wieweit sind dann auch literarische Kunstgriffe ein Mittel?
AR: Aus der amerikanischen Literaturwissenschaft kommt die Vorstellung, daß Literatur immer Fiktion ist. Das kann zu dem Irrtum führen, Literatur sei immer etwas Ausgedachtes. Literatur ist aber Authentizität, eigenes, inneres Fühlen. Dadurch gibt es ja gerade die Möglichkeit, daß man durch Literatur Wahrheiten vermitteln kann und wahrnimmt. Literatur bezieht sich auf Sprache, sie wählt eine Sprache, die ins Innere dringt und einen da anpackt, aufbricht, trifft, Erkenntnisse entstehen lässt, ohne zu suggerieren. Das Literarische bezieht sich ausschließlich auf die Form, die ich gewählt habe, nicht auf den Inhalt. Der Inhalt ist authentisch. Es gibt einen kompositorischen Plan, da ich von einer Rückblende ausgegangen bin. Von dem Tag, als ich vom Tod Ulrikes erfahre, gibt es eine Rückblende, die in der Kindheit anfängt und wieder bis zu diesem Tod zurückgeht. Das ist etwas, was man in der Literatur häufig findet.
Foto: © 2014 by Schattenblick
Mit der Erinnerung ist das nun so, daß ich das Glück habe, daß ich mich sehr gut erinnern kann. Ich neige nicht zur Verdrängung. Schon als kleines Kind habe ich mir bei manchen Erlebnissen immer wieder gesagt, das darfst du nie vergessen – da war ich drei. Ich erinnere mich an die ersten Szenen mit 2 ½ und da fängt auch das Buch an. Das liegt, glaube ich – Erich Fried beschreibt so etwas – auch an Dingen wie Schmerz. Ich war sehr viel alleine als Kind. Und wenn man viel alleine ist, dann denkt man viel nach. Dann redet man mit sich selbst, quasi in Gedanken. Das ist, wie Hannah Arendt es so schön beschreibt, das Denken: mit sich selbst diskutieren, reden, nachdenken, reflektieren, und das habe ich schon als kleines Kind gemacht. Ich erinnere mich natürlich an die Dinge, die mein Inneres aus diesem Ganzen ausgewählt hat, die mir damals wichtig waren, weil sie mich beeindruckten oder mir Schmerzen oder Glück verursacht haben. Damit habe ich das Buch gefüllt. Mit ausgewählten Erinnerungsstücken.
SB: Über Ulrike Meinhof positiv zu schreiben ist nach wie vor in der Bundesrepublik ein Tabu, über einen Staatsfeind schreibt man nichts Gutes.
AR: Ja, richtig, das kann man sagen. Damit hat man es nicht leicht.
SB: Welche Anfeindungen hast du erfahren und wie bist du damit umgegangen?
AR: Die bürgerlichen Medien haben beschlossen, das Buch totzuschweigen. Das ist insofern ganz gut, weil man öffentlich nicht so viel beleidigt wird. Und insofern natürlich schlecht, als ich ja nicht so bekannt bin, und mich immer noch bei den Lesungen Leute fragen, ob ich eine der Zwillingstöchter Ulrike Meinhofs sei. Das ist das Ergebnis dessen, daß ich mich die vergangenen Jahrzehnte, als andere Familienmitglieder ihre Sicht auf Ulrike Meinhof öffentlich kundgetan haben, zurückgehalten habe, da ich ihnen, weil ich sie liebte, keinen öffentlichen Geschwisterstreit aufdrängen wollte. Jetzt aber fand ich es an der Zeit, daß ich auch meine Meinung, meine Erfahrungen beisteuern sollte.
SB: Und hat dein Vater dazu Stellung genommen?
A.R.: Mein Vater hat nicht reagiert, er weiß, warum. Er hat allerdings schon in anderem Zusammenhang öffentlich auf mich reagiert, in der Preußischen Allgemeinen. Meine Schwestern waren gegen das Buch, besonders eine von ihnen, nicht, weil sie meint, es stimme nicht, was ich dort schreibe, sondern weil sie sich nicht noch einmal in der Öffentlichkeit haben will. Das kann ich verstehen, aber gleichzeitig habe ich ein anderes Interesse. Daher ging es um das Aushandeln von Kompromissen. Ich habe, so gut es ging, versucht, meine Geschwister herauszuhalten und nur von mir zu berichten. Wichtig war mir, der Rabenmutter-These zu widersprechen, weil ich es völlig anders erlebt habe. Und ich habe Ulrike eben früher gekannt, ich war, als meine Geschwister sieben waren, schon 14. Da kannte ich Ulrike schon über zehn Jahre lang intensiv und hatte viel beobachtet, insbesondere natürlich auch ihren Umgang mit ihren Kindern.
Die Verdichtung hat dem Buch gutgetan, so ähnlich wie bei Menschen, die unter der Zensur schreiben. Es wurde eigentlich immer besser dadurch. Die übriggebliebenen Szenen sind reduziert auf fünf Seiten, von denen jeder Satz schön ist und innige und liebevolle Situationen zwischen Mutter und Kindern beschreibt. Doch am Ende hat der Rechtsanwalt meiner Schwester gesagt, es darf gar nichts mehr über meine Geschwister drinstehen. Wir haben uns das nicht gefallen lassen wollen und deshalb mit dem Nautilus Verlag, bei dem das Buch erschienen ist, beschlossen, Passagen zu schwärzen. Dazu gibt es ein sehr eindrucksvolles Vorwort des verstorbenen Verlegers Schulenburg im Vorspann. Ich hoffe, dass eines Tages die Entschwärzung der Teststellen möglich ist.
SB: Wann bist du Ulrike Meinhof zum ersten Mal begegnet, wann zum letzten Mal und unter welchen Umständen?
AR: Ich bin ihr zum ersten Mal begegnet, als ich fünf Jahre alt war, so erinnere ich das. In Briefen von Ulrike an Heidi Leonhard, die heute im Friedrich-Ebert-Archiv öffentlich zugänglich sind, schreibt sie “die vierjährige Anja, die ist ja immer ganz wild nach mir”, so in der Art, und “die besucht uns ganz häufig.” Also kannte sie mich schon etwas früher. Danach habe ich nur wenige Erinnerungen, sie beginnen erst wieder an dem Zeitpunkt, wo meine Schwestern auf die Welt kamen. Da war ich dann sehr oft da, einmal die Woche, und dann auch viel im Urlaub oder manchmal, wenn meine Mutter im Krankenhaus war. Ich bin dann von dort zur Schule gegangen. Wie gesagt, ich bin sieben Jahre älter, das ist ein Riesenabstand. Ich habe die Kinder versorgt, ‘rumgefahren, habe mich mit Ulrike über Kindererziehung ausgetauscht. Ich fühlte mich schon sehr viel erwachsener, als ich es mit sieben war.
Das letzte Mal habe ich Ulrike im Knast besucht. Erst fuhr ich immer nach Köln-Ossendorf, dann nach Stuttgart Stammheim. Man bekam nur alle 6 Monate einen Besuch von 15 Minuten genehmigt. Anderthalb Jahre vor ihrem Tod hatte ich nur noch wenig Briefkontakt, wir hatten irgendwann keine Lust mehr, immer nur Nichtigkeiten austauschen zu können. Viele Briefe wurden nicht durchgelassen, es reichte, auch nur das Geringste politisch anzureißen, ich wusste nicht mehr, was ich schreiben sollte. Sie war dann auch sehr beschäftigt mit dem Prozeß und man hat gemerkt, daß sie sich mehr darauf konzentriert. Die letzte Begegnung war irgendwann in Stammheim, wir haben uns umarmt, da gab’s noch keine Trennscheibe, das war sehr schön, weil wir das eigentlich nicht durften. Wir wurden dafür auch gleich angeschrien, aber wir haben es trotzdem gemacht, es war sehr schön. Aber der Knast und diese Besuche waren natürlich immer ein harter Brocken, weil man nicht wirklich sagen konnte, was man wollte, weil es zu kurz war, weil es unter vielköpfiger Beobachtung stattfand.
Irgendwann habe ich dann beschlossen, darauf zu warten, daß ich eines Tages wieder mit ihr sprechen kann, wenn sie freigelassen ist. Es war einfach schwer, sich dem ganzen Procedere immer auszusetzen. Wir mussten unsere Briefe vorher in offenen Umschlägen an die Sicherungsgruppe Bonn-Bad-Godesberg schicken, BKA. Heute weiß man, daß da fast nur Faschisten gesessen haben. Damals haben wir das nur den Beleidigungen entnehmen können, die wir bei den Besuchen zu hören bekamen. Wir haben Besuche gehabt, da waren acht Leute dabei, Staatsschutz, GSG 9, Bundeskriminalamt, was weiß ich. Ich weiß nicht mehr, wann der letzte Besuch war. Ich habe auch meine eigenen Briefe nicht, die liegen immer noch irgendwo beim BKA, keine Ahnung. Ich habe keine Lust, bei denen heute um meine Briefe zu betteln, es waren Briefe, die ich nie so schreiben durfte, wie ich wollte. Aus Äußerungen bei den Besuchen konnte ich damals entnehmen, die wußten alles über mich. Das war ein blödes Gefühl.
SB: Einige bürgerlich-intellektuelle Kreise haben sich schwer damit getan, den Weg von Ulrike Meinhof in den Untergrund und ihr Bekenntnis zum bewaffneten Kampf nachzuvollziehen, aber andererseits auch genauso damit, sie gänzlich zu verteufeln und vollständig abzulehnen. Zur Ehrenrettung einer Person, die einmal eine der ihren war, haben sie ihr entweder einen kranken Kopf oder die Zufälligkeit eines folgenreichen Sprungs aus dem Fenster anläßlich der Baader-Befreiung und damit zwangsläufig in die Illegalität unterstellt. Viele haben sie auch als Opfer ihrer Genossen gesehen.
AR: Richtig. Und daß sie völlig abhängig war von Andreas Baader. Das hat mir letztens wieder eine Zuhörerin bei einer Lesung erzählt, sie wäre angeblich völlig fixiert gewesen auf den Andreas Baader; so hat sie es jedenfalls interpretiert. Ich habe totale Zweifel an dieser Schwächethese. Es war mein Interesse, ein differenzierteres Charakterbild zu skizzieren.
Katriina Lehto-Bleckert aus Finnland hat eine Doktorarbeit über Ulrike Meinhof geschrieben, die sehr gut ist: “Ulrike Meinhof 1934-1976”. [3] Sie hat dafür schon vor 20 Jahren recherchiert und ist an unglaublich viele Briefwechsel herangekommen. Und sie ist neben Jutta Ditfurth die einzige, die nicht ständig nur Männer, bzw. den verlassenen Ehemann, meinen Vater zitiert. Ich empfehle das immer, weil es so einen klugen feministischen Standpunkt hat. In Finnland hat dieses Buch einen sehr langen Titel, aber ich finde ihn gut, es ist ein Zitat von Ulrike Meinhof. “Nicht der Wirklichkeit, der Wahrheit nachgehen”, heißt es da im Untertitel. Und das ist auch ein bißchen synonym für das Buch. Es ist erst vor wenigen Jahren ins Deutsche übersetzt, aber nur in einer 150er-Auflage gedruckt worden. Kein Mensch hat es rezensiert. Meine Rezensionsangebote sind abgelehnt worden, ich sei zu nah dran. Hier heißt der Untertitel: “Ihr Weg zum Terrorismus”, den hat der Verlag ausgewählt, ein Wissenschaftsverlag.
In dem Buch wird ganz deutlich, daß es eine Entscheidung war, die auf Basis einer Lebensentwicklung getroffen wurde, die sozusagen zu dem Schluß gekommen war, daß man hier, also gegen den wiederaufkommenden Faschismus im neuen Gewand, wie man das damals stark empfand, auf Basis der Notstandsgesetze und der Beteiligung am Völkermord in Vietnam mit 2 Millionen Toten, das man also nun, immer wieder zurückweichend, nicht mehr weiterkommt durch Schreiben. Das war eine schmerzliche Erfahrung damals, ebenso, daß pazifistische Demonstrationsteilnehmer zu Massen kriminalisiert wurden und in die Knäste einfuhren. Das war lange vor jeder RAF-Bewegung. Es war eine Entscheidung, die in der damaligen Zeit sehr, sehr viele Menschen umtrieb. Man denke an Wolf Biermann, er dichtete in einem Lied gegen Chile, daß die Macht, auch für das Gute, nunmehr aus den Gewehrläufen kommen sollte. Die damaligen Protestierer, Widerständler, Revolutionäre und jungen Leute, sie dachten, dass ein neuer Faschismus nah war, bzw. der alte noch nicht überwunden. Jutta Ditfurth hat in ihrem Buch über Ulrike Meinhof dann ja auch eindrücklich bewiesen, dass daran durchaus viel dran war. Die weiteren Tatsachen werden im Laufe der nächsten 50 Jahre sicher noch ans Licht kommen.
SB: Und daß sie ein Opfer ihrer Genossen war, bis in die Auseinandersetzungen im Gefängnis, wo es heißt, sie habe nicht standgehalten?
AR: Ich bin für solche Fragen die Falsche, denn ich habe das nicht miterlebt. Ich war nie beim Prozess in Stammheim, habe mir nie so einen Prozeßtag angeguckt. Ein Augenzeuge, den ich selbst erlebt habe und der in meinem Buch auch vorkommt, ist Axel Azzola – inzwischen leider auch tot -, ein Rechtsanwalt und Rechtsprofessor aus Darmstadt. Der war, wie man damals sagte, bürgerlich liberal, jedenfalls nicht linksradikal. Später wandte er sich der Linkspartei zu. Als jüdischer Rumäne gehörte er einer verfolgten Gruppe an, seine gesamte Familie ist in Auschwitz umgekommen. Er war Faschismuserfahren und er hatte daher eine gehörige Portion Skepsis. Er glaubte nicht an diesen Staat, der in den 50er Jahren Faschisten zu Massen freigelassen und sie sich in Legislative, Exekutive und Judikative wunderbar wieder einsortiert hatte.
Axel Azzola hat Ulrike Meinhof nicht gekannt, bevor sie im Knast war. Als sie in Stuttgart-Stammheim saß, hat sie sich an ihn gewandt, weil sie mit der Linie ihrer anderen Anwälte nicht einverstanden war – das hat er mir erzählt – und hat zu ihm gesagt: Ich kenne dich nur aus deinen Veröffentlichungen. Du scheinst ein kluger Mensch zu sein. Ich möchte gerne mit dir reden. Ich möchte gerne, daß du meine Verteidigung übernimmst. Er hat sie also das erste Mal in seinem Leben im Knast gesehen und hat erzählt, daß dieser Besuch für sein Leben prägend war. Die Frau sei ihm als die klügste Frau der Welt erschienen, nie sei ihm jemand Klügeres begegnet, so in der Art. Mag sein, er war ein schwärmerischer Mensch, aber es ist insofern interessant, als zu der Zeit öffentlich gesagt wurde, sie hat einen Hirntumor und kann nicht mehr richtig denken. Dann kann sie ja nicht so gebrochen, unsicher, abhängig, hörig, gehirnkaputt gewesen sein, wenn das ein Rechtsprofessor sagt, der schließlich ein durchaus gebildeter Mann war.
Daraufhin hat er sie mehrmals besucht und sie haben dann sehr erfolgreich zusammengearbeitet. Das veranlaßte Azzola auch, gegen die Selbstmordthese zu sein. Er war einer – das habe ich auch in meinem Buch beschrieben -, der auf der Beerdigung öffentlich ausgerastet ist. Danach wurde er vom Verfassungsschutz so sehr verfolgt, daß er darüber nie wieder gesprochen hat, er hatte große Angst um seine Familie. Ich habe ihn vor seinem Tod nochmal besucht, Mitte der 90er Jahre, und er hat mir das alles noch einmal bestätigt.
Foto: © 2014 by Schattenblick
SB: Dein Vater und Ulrike Meinhof haben, heißt es, sehr oft und sehr drastische Auseinandersetzungen gehabt. Man fragt sich manchmal, wie ihre Lebensauffassung und sein Lebensstil überhaupt zusammengepaßt haben. Was hat die beiden verbunden?
AR: Das ist natürlich auch so ein Mysterium, das wird sehr stark von manchen Leuten unterstützt. Sie berufen sich dabei auf die im Klaus-Röhl-Buch von 1972 geschilderte Selbstbeschuldigungszene, wo an Silvester, kurz vor der Trennung von meinem Vater und Ulrike, mein Vater plötzlich seine Geliebte öffentlich vorführte und Ulrike dabei war. Das wird als exemplarische Demütigungssituation beschrieben. Ich kenne eine Zeitzeugin von damals, die das miterlebt hat und die das sehr bestürzt hat. Meine ganze Kindheit hindurch war mein Vater aber oft so, das gehört zu seinem widerspruchsvollen Charakter. Diese Zeitzeugin war mit meinem Vater befreundet und konnte es nicht ertragen zu sehen, daß mein Vater Ulrike damit demütigte. Ich habe aber Ulrike in vielen anderen Situationen, die ich miterlebt habe, immer als diejenige empfunden, die die Oberhand hatte in der Beziehung und die Stärkere war. Besonders auf der intellektuellen, der Argumentationsebene, da war sie ihm immer überlegen.
Meinen Vater und sie hat die 58er-Bewegung verbunden, die Anti-Atomtod-Bewegung, die politische Basis, sie haben auch viel Ernsthaftes diskutiert. Sie hatte die Vorstellung, mit Konkret sehr viel zu bewirken, was ja auch stimmte. Sie hat innerhalb dieser Beziehung gekämpft mit Argumenten. Wenn er betrunken war, hat es schon Auseinandersetzungen gegeben, und irgendwann hat sie dann eben auch gesagt, ich will das nicht mehr. So hab’ ich das erlebt. Aber natürlich war es für sie auch schmerzhaft und traurig – klar.
Als ich sie in Berlin besuchte, wo sie alleine lebte mit den Kindern, war sie jedenfalls munter, zufrieden, kein bißchen depressiv. Da hat sie zu mir gesagt, ich erinnere das ganz genau, sie habe früher immer gedacht, man brauche Hausmädchen und Mann und alles, aber sie komme viel besser alleine klar. “Ich fühle mich hier bedeutend wohler als vorher”, das hat sie mir gesagt. Und ich habe sie da in keiner Weise geschwächt erlebt.
SB: Ist sie für dich ein Vorbild gewesen und ist sie es immer noch?
AR: Vorbild ist nicht das richtige Wort, das klingt so nach anschwärmen. Sie war für mich eine bedeutende Erwachsene, die mich verstanden hat. Sie hat mit mir so gesprochen, daß bei mir im Kopf das kritische Denken begann. Ich habe immer das Gefühl gehabt, wenn sie redet, dann bringt sie genau das zum Ausdruck, was ich gerade denken will. Es war einfach eine ganz produktive Beziehung, die mich weitergebracht hat. Ich habe sie nicht erlebt wie Che Guevara oder Rudi Dutschke, die man sich damals an die Wand gehängt hat. Sie gehörte ja zu mir, sie war die Mutter meiner Geschwister, ich habe sie als Familienangehörige erlebt und als Familienangehörige habe ich sie geliebt. Ich hab’ sie geliebt, und wenn man jemanden liebt und der stirbt, dann sieht man denjenigen über Jahre und Jahrzehnte vor sich, hört ihn sprechen, sieht seine Bewegungen, sieht ihn als Menschen vor sich, als sei er noch lebendig. Daher ist es wichtig, daß diejenigen Zeugnis über einen Menschen ablegen, die ihn geliebt haben, denn sie erinnern sich an denjenigen am besten.
SB: Viele Zeitgenossen, auch solche, die ihre Auffassungen nicht geteilt haben, schätzten an Ulrike Meinhof ihren scharfen Verstand, ihre präzise Analyse, deutliche Sprache, klare Positionierung und große Empathie. Du hast einmal gesagt, daß das Wichtigste, waszeitgeschichtlich von ihr bleiben wird, ihre fälschlicherweise als solche bezeichneten bürgerlichen Texte sind.
AR: Genauso sehe ich das auch – fälschlicherweise als bürgerlich. Obwohl sie das selbst auch so gesehen hat. Das halte ich für einen großen Fehler. Sie hat mir ja beigebracht, daß man sie ruhig kritisieren darf [lacht] und das würde ich z.B. absolut kritisieren. Mumia Abu-Jamal sitzt nicht im Gefängnis, weil er Bomben geschmissen hat, sondern weil er Journalist ist und eine klare Sprache spricht und überzeugend ist für viele, viele Menschen und weil er solidarisch mit einer revolutionären Bewegung war. Diese Verbindung ist es, dieden Staaten gefährlich ist. So ist es auch bei Rudi Dutschke so gewesen. Man hat, wie ich glaube, das Attentat auf ihn in Auftrag gegeben oder wie auch immer provoziert, weil er eine so starke integrative Wirkung hatte auf so viele Menschen. Und das ist natürlich das Gefährlichste, was man sich vorstellen kann, wenn man an der Macht bleiben will, ein Mensch, wie auch Rosa Luxemburg, der eine so große Breitenwirkung und Überzeugungskraft hat und ein revolutionäres Bewusstsein.
SB: Kann, darf oder muß man den Menschen Ulrike Meinhof mit seinen politischen Überzeugungen von seinen darauf folgenden Handlungen trennen, tun sich da Widersprüchlichkeiten auf oder läßt sich das eine mit dem anderen zu einem durchaus logischen Lebensentwurf verbinden?
AR: Auch da bin ich nicht die Expertin, aber es gibt eine sehr gute Arbeit genau zu dem Thema, die in der Kurt-Eissner-Gesellschaft ca. 2003 veröffentlicht wurde [4], eine kleine Schrift, in der es um den medialen und den juristischen Umgang mit dieser Gruppe geht und darum, daß es eben ein politischer Akt war, diese Gruppe so extrem zu isolieren und ihre politischen Ziele komplett zu verfäl-
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schen. Die Gruppe hat allerdings dazu beigetragen, weil sie auch in ihrer Sprache und schließlich dann auch in ihren Handlungen eskalierte. Das ist aber nur interaktiv zu verstehen und muss deshalb historisch seriös recherchiert werden. Man kann das ja nachlesen bei Dostojewski oder Sartre, wie das dann passiert in illegalen Gruppen, selbst Brecht hat das beschrieben. Die Gruppen, die im Widerstand und illegal leben, fangen an, unter dem Druck der Situation und der Angst vor Spitzeln sich zu sehr im eigenen Kreise zu drehen, zu verrohen. Ulrike hat dann ihre eigenen Texte als unzulänglich empfunden, als ‘bürgerliches Geschreibsel’ bezeichnet, weil sie etwas empfand, was ja auch passiert, wie wir immer wieder sehen können: Alle fortschrittlichen Dinge werden in einer kapitalistischen Gesellschaft integriert, aufgesogen, umgewandelt, so, wie man das ja auch bei den Grünen oder bei den Linken überall sieht, wie es mit allen Bewegungen passiert. Was ursprünglich ein unabhängiges Jugendzentrum war, eine fortschrittliche Psychiatrie-, Inklusions- oder Pädagogikbewegung – das alles wird nach einer Weile konservativ umgewandelt, wie eingesogen, und steht dann später plötzlich ganz anders da.
Man muss es historisch seriös anfangen zu untersuchen, wie die genauen Zusammenhänge sind. In dieser kleinen Broschüre und in dem Letho-Buch, der Doktorarbeit der Finnin, ist das getan worden und das finde ich total spannend. Beide Autorinnen untersuchen die mediale und politische Prozeßführung, wie der Staat damals eigentlich im Inneren einen Bürgerkrieg geführt hat. Mit dem Interesse, die Voraussetzungen für das Privateigentum zu erhalten. So einfach ist das, die Spätauswüchse kann man jetzt ja überall sehen: Ungerechtigkeit, Massenarmut, Neofeudalisierung. Und damit erklären sich die Brüche, es musste damals bis heute dieser Mythos gepflegt werden, es wären so ein paar Irrsinnige gewesen. Das widerlegt auch das Buch von Jutta Ditfurth.
SB: Du engagierst dich ja selber politisch seit vielen Jahren. Ist Ulrike Meinhof da der oder ein Zünder gewesen?
AR: Das könnte man denken, aber so empfinde ich es nicht. Ich habe mich nicht für den bewaffneten Kampf oder für die Stadtguerilla engagiert. Ich habe mich auf anderen politischen Feldern bewegt. Ich gehöre zu der Generation der 70er Jahre, die sich ganz stark ins proletarische Milieu begeben hat. Ich bin ins Krankenhaus gegangen, habe Krankenschwester gelernt, habe Betriebspolitik gemacht.
Ich habe auch revolutionäre Situationen im Ansatz erlebt, nämlich nach Tschernobyl, wo ich sehr beteiligt war. Da hatte ich das Gefühl, daß sich kumulativ ein neues Bewußtsein in der Bevölkerung entwickelt, das fand ich unglaublich, das war für mich ein Einschnitt, auch ’68 war für mich sowas. Ich habe mich schon vorher für Politik interessiert, sicher waren das auch die Gespräche als Kind, das kann man nicht mehr so richtig auseinanderhalten. Ich habe mir aber immer eine ganz eigene Meinung gemacht. Ich bin durch die Schüsse auf Dutschke und Benno Ohnesorg politisiert worden, bin von selbst auf die Moorweide gegangen, habe Teufel gelesen und Beatles gehört und bin dann Anti-AKW-Gegnerin geworden. Die RAF als politische Option habe ich aufgrund der inneren Betroffenheit aus meinem Gehirn eher ganz ausgeblendet.
SB: Nochmal zum Buch zurück. Wer sind die Leser und welche Reaktionen gibt es darauf?
AR: Ich kann das nur von den Lesungen beurteilen. Viele sind im gleichen Alter, die sich angesprochen fühlen durch die Kindheitsschilderungen der 50er und 60er Jahre und sich dort wiederfinden. Dann kommen ehemalige Linke, die heute eher bürgerlich liberal sind und sich an diese Zeit erinnern wollen und dann so Sätze sagen: “Das ist ja erstaunlich, wie authentisch das ist.” Und weil ich die anderen Sachen so echt und authentisch beschrieben habe, sagen sie, glauben sie mir daher dann auch das, was ich über Ulrike geschrieben habe. Das gibt mir Mut und Kraft. Ulrikes Genossen, die heute nur noch zum Teil leben, in deren Umfeld ist es sehr schweigsam, eher verhalten. Ich kann das auch verstehen, weil sie das wahrscheinlich bei mir alles zu privat finden. Das ist aber auch gar nicht meine Zielgruppe, sondern eher eine andere, wo die verzerrte Wahrnehmung der gesamten 68-er Bewegung und seiner Protagonisten schon gegriffen hat. Ulrike ist ja eine historische Person der Bundesrepublik und wird es auch über die nächsten Jahrhunderte bleiben. Umso wichtiger, daß man da was gerade rückt, und ich wollte halt einen winzigen Mosaikstein dazu beitragen.
SB: Anja Röhl, vielen Dank für das offene Gespräch.
Fußnoten:
[1] Jutta Ditfurth, Ulrike Meinhof, Die Biografie, Ullstein Verlag, Berlin 2007
[2] Anja Röhl, Die Frau meines Vaters – Erinnerungen an Ulrike, Edition Nautilus, Hamburg 2013
[3] Katriina Lehto-Bleckert: Ulrike Meinhof 1934-1976, Ihr Weg zur Terroristin. Tectum Verlag, Marburg 2010 (deutsche überarbeitete Ausgabe der Dissertation an der Universität Tampere 2010)
[4] Isabel Erdem, Staatlicher und publizistischer Umgang mit der Stadtguerillabewegung in der BRD, in: Kurt-Eisner-Verein für politische Bildung (Hrsg.), Neue Kritik aus Schule und Hochschule, Heft Nr. 6, München 2004
18. April 2014
aus:
2014 by MA-Verlag
Elektronische Zeitung Schattenblick, ISSN 2190-6963
Redaktion Schattenblick, Dorfstraße 41, 25795 Stelle-Wittenwurth
www.schattenblick.de
Anhang:
Hintergrund:
Heimerziehung in den 60er / 70er Jahren
Die Heimerziehung in der BRD war auch nach 1945 grausam, ausbeuterisch und brutal. Sie arbeitete mit Mitteln der Einschüchterung, Demütigung und Ausgrenzung, mit körperlicher und seelischer Gewalt. Es gab Karzer- Zellen in Kellern und unter den Dächern, in die die Kinder bei Wasser und Brot und ohne Ansprache tagelang eingesperrt wurden, es gab häufig Suizide von Kindern, es waren in diesen Erziehungsinstitutionen offenbar zahllose SS-Frauen noch lange nach 1945 ungestört tätig und könnten ihre menschenfeindlichen und kinderfeindlichen Impulse, hier, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden, ausleben.
Nach der ersten Welle der Aufdeckung gravierendster Misstände, schlimmster Brutalitäten und Sadismen, verübt von staatlich bezahlten Erziehungspersonen an Fürsorgezöglingen, was durch Ulrike Meinhof geschehen war, die nach ersten Recherchen, den Heimmädchen erstmalig eine öffentliche Stimme in Rundfunk und Fernsehen verlieh, zog sich eine Welle des Protests durch die ganze damalige Jugend und Bundesrepublik. Viele gingen danach in die entsprechenden Institutionen, um sie von innen heraus zu verändern.
Die praktischen Erfahrungen von Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Astrid Proll, Irene Goergens und vielen anderen in Institutionen der Heimerziehung, die dort genau die rein erhaltene Nazi-Erziehung vorfanden, von der Ulrike Meinhof berichtet hatte, verzweifelte und zum Äußersten entschlossene Kinder und Jugendliche reagierten mit „Bambule“, mit dem Zerlegen des Mobiliars, mit dem Zerstören ihrer Heime, und Massen-Suiciden, erlitten furchtbare Strafen, schlimmer als in jedem Gefängnis, waren mit eine wichtige Ursache für deren spätere Radikalisierung.
Im Zuge dieser Ereignisse entwickelte sich die “Heimkinderbefreiungsbewegung” im Laufe der es zu Massenausbrüchen und einer gegen den Staat bewaffnet operierenden Radikalisierung vieler der Betreffenden und ihrer Helfer kam.
Nachdem die meisten von ihnen Jahre später im Knast landeten und darin auch zT zu Tode kamen, dauerte es bis ins Jahr 2006, als durch den irischen Film: “Die unbarmherzigen Schwestern” sich auch hierzulande Hunderte betroffener ehemaliger Heimkinder wieder öffentlich zu Wort meldeten.
Ihre Stimmen wurden in dem Buch von Peter Wensierski: Schläge im Namen des Herrn zusammengefasst, woraufhin ein öffentlicher Ausschuss zur Untersuchung eingerichtet wurde, aus dem ein Wiedergutmachungs-Fonds hervorging. Inzwischen steht fest: In etwa 3000 Heimen der öffentlichen Fürsorge wurden bis 1975, über 800.000 Kinder und Jugendliche gequält, ausgebeutet und unter unmenschliche Bedingungen festgehalten. Sie wurden durch dieserart Behandlung meist für ihr ganzes Leben geschädigt.
Aufarbeitung
Viele Heime arbeiten inzwischen ihre Geschichte auf, ganz besonders hat sich hier Freistatt hervorgetan, hier ist ein Museum im ehemaligen Jugenheim entstanden, nachdem in ihren Originalräumen ein sehr guter Film gemacht worden ist. Aber auch Glückstadt u.v.a. haben Dokumentationen erstellen lassen, in denen sie aufklären. Die wenigsten finden Worte der Entschuldigung für ihre ehemaligen Zöglinge.
Es hat sich eine Runder Tisch Heimerziehung und ein Fonds gegründet und es sind Vereine und Verbände ehemaliger Heimkinder entstanden. Allen aber ist klar, dass kein Geld ihnen ihre fehlenden Lebenschancen ersetzen kann. Es bleibt ihnen daher nur die Chance zu mahnen, zu erinnern und sich für ein “Nie wieder!” einzusetzen
Leider haben wir es heute mit einer erneuten Brutalisierung von institutioneller Erziehung zu tun, das liegt zT an der Privatisierung öffentlicher Daseinsfürsorge unter Bedingungen größtmöglicher Kostenersparnis.
Ein Beispiel:
http://www.br.de/nachrichten/sozialministerium-reaktion-br-recherche-kinderheime-100.html
Liebe Antje Schrupp
Es sind nur insgesamt 5 Seiten von 165 Seiten geschwärzt worden, das ist also nicht so viel, es handelt sich jeweils um kurze Sätze inniger Schilderungen aus dem Leben meiner Geschwister, die aus Gründen nicht erteilter Genehmigungen persönlichkeitsrechtlich geschützt werden müssen. Die Inhalte kann man sich aus dem Zusammenhang erschließen.
Anja Röhl
hallo,anja!
ich freue mich,daß Du dieses buch geschrieben hast!
leider habe ich Deine Lesung auf dem UZ-pressefest versäumt(habe auch keine Ankündigung dafür im Programm gelesen?!).
ich werde mich dafür stark machen,daß Du mal in Oldenburg in Niedersachsen lesen kannst!
rote grüße von r…..
Sehr gern, prima
Gerne, unbedingt, da komme ich gern hin.
Hallo Anja,
zu allerallererst äußerst herzlichen Dank für die Widmung, die Du gleich im Vorwort auch mir ausgesprochen hast.
Ich hab´ mir ja auf der LiLiMe in Nürnberg am vergangenen Wochenende ´n bisschen Literatur besorgt. Dein Buch hab´ ich als erstes begonnen zu lesen, warum, weiß ich nicht genau. Wahrscheinlich weil mir die Erinnerungen, Deine Erinnerungen, aus denen Du vorgelesen, so bekannt sind. Obwohl ich fünf Jahre jünger als Du, Scheidungskind bin, die Atmosphäre, die Du geatmest hast, genauso noch in der Nase habe als wäre es gestern. Als 60er Kind.
Das Buch hab´ ich noch nicht zuende gelesen, jedoch kann ich jetzt schon sagen, daß es auch Teil meiner selbst. So wie es im Klappentext des Buches steht, ein Dokument, also ein Sprachrohr dessen, was auch ich selbst erfuhr, wenngleich auf andere Weise, na ja, auf meine halt.
Und für dieses Sprachrohr, durch das Du ´n bisschen auch mich selbst vermittelst, nochmal danke, allerherzlichst.
In Verbundenheit
Gerd, ein Genosse aus Nürnberg
Gerade Ihren Artikel im Spiegel gelesen. Mir ist ähnliches 1964 in Amrum passiert. Hat sehr lange gedauert, bis ich da hingucken konnte. War auch leider nur der Anfang von noch viel mehr Erlebnissen sexueller Gewalt gegen mich als Kind. Würde sehr gerne Kommunikation mit Ihnen aufnehmen, da das Thema mein ganzes Leben bestimmt hat. Ich bin Künstler, und arbeite fast ausschliesslich mit dem Thema schon seit sehr langem. Wohl auch der Grund, warum ich auf der anderen Seite des Planeten lebe. Vielen Dank, also, für den Mut, dieses Thema aufzugreifen und zu bearbeiten. Mahalo e Aloha.