Die Autorin Anja Röhl hat erstmalig 2004 in der Literaturzeitschrift Risse, unter dem Titel: Tante Anneliese, dann 2009 in einem Artikel in der Literaturbeilage der jungen Welt: “Und dann bin ich verloren! Hände hoch: Wie war es auf die Nordseeinsel Wyk verschickt zu werden?“ im Feuilleton der jw, und dann 2013, nochmal ausführlicher, in dem autobiografischen Roman: Die Frau meines Vaters, ihre Erlebnisse aus Verschickungsheimen beschrieben und geschildert. 2019 gründete sie die Webseite: www.verschickungsheime.de und initiierte eine breite Vernetzung von Betroffenen und Forschenden zu diesem vergessenen Thema.
Auszug aus dem Buch: Die Frau meines Vaters:
Eines Tages sagt die Mutter, der Arzt habe gesagt, sie müsse „verschickt werden“ in ein Heim. Sie sei zu dünn und zu oft krank und solle zu einer “Verschickung“. Dort würde sie gesund werden, bei frischer Luft. Das Wort Heim macht dem Kind Angst. Die Mutter sagt, es sei gut für sie. Das Kind findet das nicht. Statt in die Schule zu kommen, wird sie nun verschickt, bekommt ein Schild um den Hals wie die anderen Kinder auch und wird an einen Zug gebracht. Schüchtern sitzt sie mit fremden Kindern zusammen in der Eisenbahn. Sie fahren nach Wyk. Das ist auf Föhr, einer Insel in der Nordsee. Zu den Erziehern müssen sie Tanten sagen. Das kennt das Kind schon. Die Verschickung dauert sechs Wochen. Nach Hause werden Karten geschickt, die haben die Tanten geschrieben, auf denen steht, dass es den Kindern gut gehe.
Abends liegen sie im Schlafraum. Es ist ein riesiger Schlafraum, mit zahllosen kleinen Feldbetten, graue Decken darüber. Eine Erzieherin ist noch ganz hinten im Raum, kommt aber näher. Das Kind liegt unter der grauen Decke und hat große Angst. Denn die Tante geht von Bett zu Bett und macht etwas Seltsames. Sie nimmt die Hände der Kinder hoch, besieht sie sich und legt sie wieder hin. Was macht sie dann? Sie zieht etwas Weißes aus der Tasche, steckt die Hände der Kinder hinein und schnürt sie mit einem Band unter dem Bett fest. Das Kind beobachtet die Tante und rührt sich nicht, starrt auf die weißen Stoffstücke. Es sind Handschuhe ohne Finger. Plötzlich versteht das Kind: Die Kinder werden mit ihren Händen ans Bett gefesselt…
Durch Recherchen wurde inzwischen viel herausgefunden, unter anderem, dass allein in Westdeutschland über 30 und mehr Jahre, um die 8-12 Millionen Verschickungskinder allein, ohne ihre Eltern in weit entfernte Heime mit der Bahn, zT in Nachtzügen, verschickt wurden, dort von überfordertem, oft nicht pädagogisch ausgebildetem Personal empfangen wurden und Härten erlitten. Erinnert werden in zahllosen Berichten: Demütigungen, Erniedrigungen, Gewalt und auch sexuellen Missbrauch. Durch Aktenstudium ist schon herausgekommen, dass in diesen Heimen Medikamentenversuche im Auftrag der Pharmaindustrie vorgenommen wurden (Belegt für Bad Dürrheim), dass Todesfälle von Kindern durch Verprügeln und Ersticken an Nahrungsmitteln vorkamen (Bad Salzdetfurth), dass Überbelegung und Unterbesetzung in den Heimen die Regel waren. Die Forschung des Phänomens steht noch ganz am Anfang, sicher ist aber, dass diese Vorkommnisse bisher noch niemals Gegenstand der Forschung gewesen sind. Alle Fachdisziplinen sollten sich angesprochen fühlen, dieses bisher von der Geschichte vergessene Thema, dessen Zusammenhänge und Hintergründe zu ergründen. Erste Anregungen dazu hier.
Ich selbst bin mit 5 Jahren (1960) für sechs Wochen, nach Wyk auf Föhr, ins Hamburger Kinderheim und mit 8 Jahren (1963) für acht Jahren ins DRK Heim Johannaberg in Berlebeck verschickt worden. Beide Häuser stehen noch, aber die Hausherren verweigern mir jeweils den Besuch. Ein Besuch in diesen Häusern ist für uns als Betroffene sehr wichtig für die individuelle Aufarbeitung. Dadurch können wir unsere innere Kinder, die wir in diesen Räumen allein und verängstigt zurückgelassen haben, dort abholen und uns, nun als Erwachsene, auf ihre Seite stellen und ihnen dadurch Kraft geben.
Welche mehr wissen wollen, können auf die Webseite: www.verschickungsheime.de gehen. Diese Webseite ist die bundesweite Webseite der Betroffenen, sie erhält bisher keinerlei Unterstützung oder Förderung, hat aber mit ca 200 neuen Anfragen Betroffener pro Woche zu tun. Über 6600 haben bereits an einem von uns entwickelten Fragebogen teilgenommen, der internationalen Standards genügt. Dort können sich noch weitere Betroffene melden. Auch einen Newsletter können Sie bestellen, hier:
Die Politik und die Träger müssen sich ihrer Verantwortung stellen, Anfänge dazu sind initiiert.