Alice in den Fluchten und im Wunderland – Rezension

jw / 28.4.11/ Feuilleton

8 bild RambazambaWas fasziniert noch immer an den beiden Alice-Bänden von Lewis Carroll, die vor fast 150 Jahren erstmals erschienen?

Ausschlaggebend für die Beliebtheit dieser irrealen Kindergeschichten, die in zahllosen Adaptionen von der Satire bis zum Kitsch in Film und Theater kreativ bearbeitet wurden, ist weniger ihre drogeninduzierte Aura als ihre Nähe zu dem, was Freud »Das Unbewußte« nannte: Dem Zwängen des Allgemeinen wird ein gewisser Widerstand entgegensetzt, es entsteht die Idee, dem Diktat der Zeit »nach vorwärts und rückwärts« zu entfliehen.

Nicht nur Märchen

Gilt »Alice im Wunderland« von 1865 als die Hommage eines schüchternen jungen Mannes an eine Elfjährige, die er auf einer Bootsfahrt mit selbsterfundenen Märchengestalten unterhalten hatte, so bildet das Folgebuch »Alice hinter den Spiegeln« von 1871 mit seinen mehr mathematisch angeordneten Bildern und Szenen, den dialektischen Gegenpart, in dem Carroll die phantastischen Figuren mit einer gewissen Logik ein wenig zügelt und sozusagen »erwachsener« macht. Darüberhinaus eignet sich »Alice hinter den Spiegeln« vorzüglich zu gesellschaftskritischen Spitzen. So kann man beispielsweise den »War on Terror«, den die US-Regierung seit dem 11.9.2001 in Afghanistan und anderswo führt, mit der Erklärung des Schachspiels in »Alice hinter den Spiegeln« beschreiben: »Also das ist zum Beispiel der königliche Läufer. Er sitzt jetzt gerade seine Strafe ab im Kerker; und der Prozeß fängt erst Mittwoch in acht Tagen an; und das Verbrechen kommt natürlich erst ganz am Schluß – Angenommen, er begeht das Verbrechen gar nicht? – Umso besser! Oder etwa nicht?«

Das Gefühl einer großen Fremdheit

1_friedericke_metzner_74x77_web_350x250Das Berliner Theater RambaZamba hat daraus das Stück »Alice in den Fluchten« gemacht, das im April noch einmal wieder aufgeführt wurde.

 

Ausgangspunkt für das Ensemble, das von Menschen gebildet wird, die man in der Regel als »geistig behindert« tituliert, war das »Gefühl einer großen Fremdheit«, in die Alice geworfen ist, konfrontiert mit Regeln, »denen man sich unterwerfen soll, die man aber nicht versteht«.

Zu Beginn sagt Alice: »Aber ich will doch nicht unter Verrückte gehen!« Mietze: »Dagegen läßt sich nichts machen, hier sind alle verrückt. Ich bin verrückt. Du bist verrückt.« ­Alice: »Woher weißt du, daß ich verrückt bin?« Mieze: »Sonst wärst du ja nicht hier.« Am Ende ihrer Reise durch verschiedene Identitäten kann sich Alice, grandios gespielt von Juliana Götze, erstmals selbst fühlen. Mit ihrer Rolle als Schauspielerin wird sie zum gestaltenden Subjekt, was jedem Menschen, der hier meint, daß behinderte Menschen etwa nur »vorgeführt« würden, den Wind aus den Segeln nimmt.

Alice im Wunderland von den Eckigen in Greifswald

Eckigen WunderlandDas gilt auch für das Behinderten-Theater Die Eckigen, das am Freitag in Greifswald den älteren Alice-Stoff spielt: »Alice im Wunderland« in lockerer Szenenfolge als Musikstück mit Pantomime.

Stark das Anfangsbild, als die Schauspieler mit ihren Körpern in einem roboterartig sich bewegenden Standbild Zeit rhythmisieren, dann alle zusammenfallen und sich aus ihrer Mitte Alice erhebt. Die Schauspieler sprechen nur wenig Text, arbeiten viel mit Körpersprache. Zu hören sind die Sätze, die die Behinderten öfters hören müssen: »Nicht zu spät kommen!« »Alles richtig machen!« und immer wieder: »Was bist du? – Das weiß ich selber nicht!«. Die Gruppe steht stärker im Vordergrund als Alice, die irritiert zwischen Gestalten hin und her wandert. Im Tanz lebt sie wieder auf.

Im Untergrund?

Ähnlich der mysteriösen Kellergestalten im Stück leben auch die Schauspieler der Eckigen sozusagen im Untergrund der Gesellschaft, weil sie vielleicht keine Schulabschlüsse haben, als psychisch krank eingestuft wurden, obdachlos waren oder sind und tagsüber in Behindertenwerkstätten arbeiten. Außerhalb des Theaters sieht man sie im Bleicheneck, in der Fußgängerzone oder am Bahnhof. Da vermeiden sie dann Augenkontakt mit »Normalos« oder haben kleine zwangsneurotische Marotten. Auf der Bühne blühen sie auf, als hauche man ihnen ein neues Leben ein.

Nächste Vorstellungen von »Alice im Wunderland«: 29.4., 9.5. Greifswald, Großes Haus