Aussetzer im Grips – Rezension
Das Zwei-Personen-Stück »Aussetzer« wurde von Lutz Hübner 2007 in der deutschlandweiten Erregung über die Neuköllner Rütli-Schule geschrieben. Es hat von seiner Brisanz nichts verloren, wie die Premiere des Berliner Grips-Theaters am 6. Juni bewies.
Ausgangspunkt des Kammerspiels für Jugendliche und Erwachsene ist die Eskalation eines Lehrer-Schüler-Konflikts. Frau Stöhr (Katja Hiller) und Chris (Paul J. Hoffmann), die kaum unterschiedlicher sein könnten, geraten auf dem Schulflur aneinander. Er ist ein machomäßig aufgeblasener Outlaw. Sie legt Wert auf Umgangsformen aus der Mittelschicht. Auf dem leeren Flur – die Bühne von Ulv Jakobsen ist sehr gelungen, extrem kühl: nichts als eine langgestreckte niedrige Holzkonstruktion mit aufgesetzten großen Milchglasscheiben – bedrängt Chris seine Lehrerin, ihm eine Drei zu geben. Frau Stöhr verwahrt sich dagegen und wird von ihm niedergeschlagen (hinter der Bühne im Schattenriß zu sehen).
Im überraschenden Verlauf der Auseinandersetzung zwischen den beiden werden Hintergründe deutlich. Sensibel und einfühlsam nimmt Regisseur Yüksel Yolcu die Figuren unters Brennglas. Eine mögliche Lösung des Konflikts blitzt manchmal kurz auf, gerät durch Mißverständnisse aber schnell wieder in weite Ferne.
Gewalt zeigt Verzweiflung
Chris’ Vater ist ein angepaßter Arbeiter, wie man ihn aus dem Film »Kuhle Wampe« kennt. Man müsse sich im Leben nur ordentlich anstrengen, behauptet er, und würde dann schon Fort- und Einkommen finden. Seinem Sohn versucht er das mit Schlägen klarzumachen. Die Gewalt zeigt deutlich seine Verzweiflung und macht indirekt klar, wie wenig der Vater selbst noch an seine Grundsätze glaubt. Chris reagiert nach dem Gesetz der »Identifikation mit dem Aggressor«; die Lehrerin bekommt seine Wut ab, hat als Intellektuelle aus behütetem Elternhaus kein Verständnis für den Jungen, kann sich aber mit dem Anspruch, ihren Job gut zu machen, nicht einfach von ihm abwenden. Die daraus resultierenden Verstrickungen bieten tiefe Einblicke ins Innenleben der Figuren, die sehr differenziert gespielt werden. Am Ende sitzt das Publikum da, hat beide Charaktere verstanden, Gründe und Zusammenhänge im Kopf, und Fragen, die weiterarbeiten.
Das ohnmächtige Handeln der Einzelnen
Gesellschaftliche Probleme werden ohne einfachen Agitprop aufgearbeitet. Das ohnmächtige Handeln der einzelnen, die im System Schule exemplarische Rollen ausführen, wird vor dem Hintergrund des Klassenunterschieds verständlich. Dabei kippt das Exemplarische nie ins Klischee. Und immer wieder wird im Konkreten das Bedürfnis beider Helden deutlich, Abgründe zu überwinden, aufgezwungene Rollenzuschreibungen zu sprengen. So schildert das Stück das Scheitern ihrer Kommunikation und bietet dennoch Anlaß zur Hoffnung. Der offene Schluß läßt den Zuschauer allein mit sich und den aufgeworfenen Fragen.
Es geht hier nicht um Klassenversöhnung, sondern um Klassenauseinandersetzung, verzweifelt, tragisch, realitätsnah. Meines Erachtens ist »Aussetzer« viel besser als Hübners Erfolgsstück »Frau Müller muß weg«, das allzu einseitig für eine Lehrerin und gegen Eltern Stellung nimmt.
Nächste Vorstellungen: 7./ 9./ und 10.9.2013