Das Mädchen mit den Schwefelhölzern – Oper – Rezension
Auf der Programmankündigung der diesjährigen Spielzeiteröffnung der deutschen Oper in Berlin Charlottenburg finden sich zweimal zwei Augen, dazu die Worte: Waisenkind – Terrorist, die Ankündigung des monumental-orchestralen Opernwerks von Helmut Lachenmann, einem Schüler Luigi Nonos: Das Mädchen mit den Schwefelhölzern.
Weder das Mädchen mit den Schwefelhölzern, noch Gudrun Ensslin oder Leonardo da Vinci, deren Textvorlagen der Oper zugrunde liegen, waren allerdings tatsächliche Waisenkinder. Wie kommt es zu dieser Assoziation?
Soziale Waisenkinder
Gesamtgesellschaftlich gesehen könnte man die 68iger und das Schwefelholzmädchen vielleicht als Soziale Waisenkinder bezeichnen, denn eine große Menge von ihnen waren zumindest Halbwaisen und ein zweifacher Massenverlust hatte in ihren Familien stattgefunden, der an möglichen Vorbildern, jeglicher Freigeist war während der Nazizeit ermordet worden, und der an ihren Eltern, bei ihnen war ein mehrfacher Seelenmord passiert, sie waren mehrheitlich zu Tätern an unschuldigen Menschen, Kindern, Frauen und Alten, gemacht worden, zu Brudermördern, Denunzianten, Massenabschlächtern gedungen, hatten hernach Verwundungen, Elend, Verluste und Hunger oder den gewaltsamen und zu frühen Tod erlitten. Das Schwefelholzmädchen hat zwar Eltern, die aber sind so arm, dass sie es an Weihnachten betteln schicken müssen. Beide sind exemplarisch gesehen und im übertragenen Sinne Waisenkinder.
Bis es einschlafend erfriert
Während nun aber das eine Kind sich mit den Streichhölzern nur erwärmt und sich im Schatten fremden Reichtums in einer Straßenecke mit seinen Phantasiegebilden tröstet, bis es einschlafend erfriert, zieht das andere, hier als Terrorist bezeichnet, eine andere Konsequenz, die Flammen, in die sich der Tand der Warenhausüberproduktion auflöst, der durch Kinder- und Billigarbeit in fernen Ländern ermöglicht wird, die wir durch Kriege in Schach halten, enthalten in sich die Visionen eines gerechteren Lebens mit der Symbolkraft Feuer.
Donnerndes Brüllen und eine Höhle
Dies leitet über zur Verbindung mit dem dritten Text, des Leonardo da Vinci: So donnernd brüllt nicht das stürmische Meer, wo der Held am Rande einer Höhle von dem Doppelgefühl der Furcht und des Verlangens ergriffen und geplagt wird, während um ihn her Felsen bersten und Schwefelfeuer rasen.
Eine als sprachlos erlebte Situation
Aus diesen Ideen von Armut, Angst, Kälte, Einsamkeit und Verzweiflung, baute sich Lachemann ein Libretto, das nichts als unverständliches Gestammel (einer an sich sprachlos erlebten Situation) bleibt und nur einen Text im Wortlaut zitiert, nämlich den, das Kriminelle, Wahnsinnige und Selbstmörder die vom System produzierten Widersprüche zwar in sich verkörpern, andererseits aber sich selbst an diesem zertrümmernden System auch selbst mit zertrümmern, was intendiert ist. Etwas, was sich schließlich auch an der Autorin dieses Textes (Gudrun Ensslin) selbst realisiert hat.
Dazu gibt es Bilder einer Gesellschaft, die in voneinander getrennten Wohnkästen hausen, in denen die Angst regiert und das Fortkommen und der Widerstand gegen diese Angst, zu einem heimlichen Drahtseilakt in einem Lichtschacht wird, in den man viel Tausendmal wieder zurückgestoßen wird, bevor man einmal ans Ziel gelangt.
Die Zimmer sind seltsam
Im ersten sieht man zwei halbwüchsige Mädchen, es könnten die Schwestern Ensslin sein, sie tragen altmodische Faltenröcke aus den frühen 60-iger Jahren und lernen an einem Flügel gutbürgerliche Hausmusik. Das helle Zimmer wird schließlich von Feuerwerkskörpern verwüstet und beschmutzt, die Brüchigkeit und Verlorenheit des Bürgertums wird sichtbar.
Im Zweiten lebt ein Mann mit einer Frau in einer kleinen digitalen Filmwelt, bei der die Frau als Körper, als Objekt der Begierde, als Bild nützlich ist und ihr Mann der Konsument dieser Bilder bleibt. Beide leben unverbunden, unkommunikativ, in enger Umgebung, an die Leinwand gebunden. Das Kleinbürgertum, das in Illusionen lebt.
In den dritten Raum, es ist das Dachgeschoss, ein Bretterverschlag, gelangen die Menschen, die sich durch den engen Lichtschacht, durch viele Windungen hindurch zwängen, sie bleiben im Dunkeln, sie experimentieren mit Flaschen, sie zündeln und springen nach hinten weg, es sieht wenig gemütlich bei ihnen aus. Sind das die, die sich selbst am Ende zertrümmern? Rechts davon ist ein Plafont unterm Sternenhimmel. Dort tanzen, die den Weg hinauf und hinaus geschafft haben, mit dem Tod.
Soweit die Bilder und der Text
Die Figuren wirken vor allem gestisch und mimisch und durch eine Fülle von Geräuschen, die einen Klangteppich ergeben, der sich im gesamten Haus ausbreitet. Die Figuren zeigen in ihren Bewegungen, in ihrem Gesicht und in ihren Tönen: Angst, Wahnsinn, Kraft.
Zertrümmerungsmusik
Die Geräusche, die zum Hauptsinnträger der ganzen Aufführung werden, verbinden sich zu einer einzigartigen und emotional erschütternden orchestralen Zertrümmerungsmusik. Sie geht einem durch Mark und Bein, sie erreicht einen in den tiefsten tiefen des Unbewussten und dort direkt die Angstzentren. Das Grauen unserer Epoche wird hier vom Einzelnen aus angepackt, direkt aus seinem Inneren scheint es uns hervorzuklingen. Diese Musik ist manchmal nur ein Anstreichen wie bei einem Streichholz, manchmal sind es Backpfeifen und Drohungen, Schlagen von Händen gegen Haut, wie vom Schlagen eines Kindes, Geräusche des Keuchens, des Stammelns, des Atmens, wie tausendfache, millionenfache Angst, manchmal wie Erschrecken, manchmal wie Einfrieren, manchmal wie die Zwangsstereotypien eines hospitalismuskranken Autisten.
Menschengeräusche äußerster Vielfalt
Es sind nicht Maschinen-, nein Menschengeräusche äußerster Vielfalt. Sie wechseln sich ab mit solchen von Eintönigkeit, ja Uniformiertheit, in denen das Zersplittern der Töne in seine Einzelheiten vollzogen wird, wie nach einer Explosion. Das wird kontrastiert durch leise Rhythmik, wie von bloßem Herzklopfen, das sich steigert und steigert, wie zu einem Schrei. Und all das fegt in Wellen durch den Saal und durchbrandet das Publikum. Die Instrumente und Menschen, die diese Töne erzeugen, mit Stäben, Papier, mit ihren Händen und Mündern, manchmal tonlos, manchmal mit Ton. Sie spielen auf den eigenartigsten, nicht zuzuordnenden Instrumententeilen und sitzen im ganzen Publikum verteilt. Die Musik umklammert also das Publikum, hält es gefangen, durchdringt es aber auch.
Jenseits von Verteufelungen
Ein eindrucksvolles Schauspiel, nicht ungefährlich. Es ist selber ein Spiel mit dem Feuer, denn der Autor hat mit dieser Oper 1990 oder vielleicht noch früher begonnen, sieben Jahre daran gearbeitet und sie schließlich 1997 uraufgeführt. Einige Jahre früher und es wäre, was er getan, unzweifelhaft verdammungswürdig gewesen, aus Sicht der damaligen Politik ein Teufelswerk. Heute können Briefe von Gudrun Ensslin frei zugänglich erscheinen, heute darf auch ein Zitat von ihr im Mittelpunkt einer ganzen Oper stehen, 35 Jahre nach ihrem Tod beginnt nun zaghaft die Zeit der Erklärungen und die Suche nach Ursachen, jenseits von Mordanklage, Geheimdienstszenario und Verteufelung.
Nur dem Wohlstand in den oberen Etagen zugänglich?
Heute kann Lachenmanns Oper gezeigt werden, jedoch nicht dem Mann auf der Straße, der um sein Monatssalär von 350.-EU aufzubessern, Flaschen aus Mülleimern fischen muss, sondern nur denen, die der Wohlstand in die oberen Etagen unserer Finanz-Oligarchie-Diktatur hochgespült hat, die sich die Karten von 70/80.-Eur pro Abend aus der Portokasse leisten können.
Kunst steckt in einem Dilemma
Kunst steckt in einem Dilemma: Sie ist, nach Lachenmann (zitiert im Programmheft), „eine der letzten Bastionen“, ein „antikapitalistischer Raum“, „zumindest nicht direkt vom Geld gesteuert“, der Künstler hat also relative Freiheit, sich zu entfalten, sie kommt allerdings oft nicht bei ihrer antikapitalistischen Zielgruppe an, da die bürgerliche Kunst in einem Elfenbeinturm steckt, aus dem zu entfliehen nur mit viel Mühe und meist erst einige Jahrhunderte später gelingt.
Die Aufführung der Luigi Nono-Oper in einem alten Heizkraftwerk war diesbezüglich eine glänzende Idee, diese Musik passt nicht in vornehme Opernhäuser, wo die Aktionärsgattinnen lange Schleppen tragen, ich wünsche sie mir in die abgewickelten ostdeutschen Fabrikruinen, die man allüberall entlang der Eisenbahnlinie nach Greifswald und Usedom traurig stehen sehen kann. Hier haben einmal Menschen gearbeitet und gar nicht so schlecht. Nun sind diese arm wie das Schwefelholzmädchen und frieren in den leeren Fabrikhöhlen. Hier kann man die Angst geradezu sehen, die die Menschen unseres Jahrhunderts packt, hieraus entsteht sowohl Wut, wie auch Widerstand. Das wäre eine Analogie, die wahrhaft passend wäre.
Weitere Aufführungen die ganze Spielzeit