Die Frau die singt – Filmrezension

23.6.11 /  jw / Feuilleton
 
Die Frau die singtEs beginnt mit einer traurigen Musik über einer öden Berggegend. In einem verfallenen Haus ohne Fenster werden zehn- bis zwölfjährigen Jungen die Haare geschoren, von Soldaten. Keiner spricht ein Wort, die Kinder sind apathisch, auf den Knien der Männer liegen Gewehre. Die Kamera schwenkt nach unten. Man sieht die nackten Füße der Jungen neben den mächtigen Soldatenstiefeln. Einer der Jungen hat eine Tätowierung an einer Ferse, drei übereinanderliegende Punkte.

In der nächsten Szene des kanadischen Films »Die Frau, die singt« zieht ein Mann eine Mappe aus einem Archiv. »Narwal Marwan« steht darauf, die Kamera schwenkt Richtung Fenster, offenbar eine westliche Großstadt. Der Mann läuft mit der Mappe in einen anderen Raum, legt sie vor sich auf den Tisch. Ihm gegenüber sitzen eine junge Frau und ein junger Mann. Es ist die Situation einer Testamentsverlesung. Die Mutter der beiden ist gestorben. Fünf Jahre vor ihrem Tod hat sie plötzlich aufgehört zu sprechen. Sie will keinen Grabstein, bevor die erwachsenen Kinder nicht ihren Vater und einen unbekannten Bruder gefunden haben. Die Tochter soll den Vater, der Sohn den Bruder finden. Beide bekommen einen entsprechenden Umschlag. Die Tochter reagiert nachdenklich. Der Sohn protestiert, hält nichts von einem Tausende Kilometer entfernten Land, das keiner der beiden je betreten hat, ist wütend auf seine Mutter, will nichts mehr mit »der Verrückten« zu tun haben. Die Tochter aber tritt die Reise nach einigem Zögern an.

Der Film basiert auf dem Theaterstück »Incendies« (Verbrennungen) des Frankokanadiers Wajdi Mouawad (eine Hamburger Inszenierung habe ich in der jW vom 16.3.2010 besprochen). Allmählich werden Stück für Stück die zurückliegenden Ereignisse enthüllt, durch die Suchaktionen der Kinder, in eingeschobenen Parallelhandlungen. Das ist gut gemacht. Die Lebenswege der Figuren sind unauflöslich miteinander verwoben. Das Drama entwickelt sich, es geht von Trauma zu Trauma. Die Auflösung im Finale ist gänzlich unerwartet.

Nach der kurzen Eingangsszene geht der Film dabei vom Blickwinkel der erwachsenen Kinder in einer hochindustrialisierten Gesellschaft aus. Mit ihnen taucht der Zuschauer unmerklich in ein typisches Nahost-Kriegsland ein, in das unsere Rüstungsgüter seit Jahrzehnten gewinnbringend »abgesetzt« werden.

Der Film bietet viele Identifikationsebenen, zieht einen aber nie ins Mitleid hinab, sondern man wird durch die Nachforschungen der Kinder, die einem mathematischen Suchspiel ähneln, nach jeder tragischen Szene ins Sachlich-Nüchterne gehoben, bis der Knoten ganz außergewöhnlich gelöst wird, was ein erstaunliches Gefühl hervorruft. Man begreift, dass man, die Wahrheit zu erkennen, sie nicht einfach mitteilen kann, sondern, dass die Wahrheit nur findet, wer sich selber auf die Suche macht.

Das scheinbar psychiatrische Verstummen der Mutter wird nach ihrem Tod sehr präzise aufgeklärt, die plötzliche Katatonie unbedingt nachfühlbar. Dies wird nicht nur als persönliches Drama präsentiert, sondern als Ausdruck von weltgeschichtlich-psychosozial- historisch-wirtschaftlichen Geschehnissen. Montagehaft zusammengesetzte Wirklichkeitsepisoden holen den Zuschauer immer wieder aus der Geschichte heraus und versetzen ihn in die Rolle eines detektivisch-sachlichen Aufklärers.

In der Auflösung werden alle Fäden verknüpft, ein ganzes Leben entfaltet sich. Man ist fassungslos und erinnert sich am nächsten Tag auch daran, wie wir unsere Kriege um Öl führen. Erst einen Diktator sponsern, ihm Waffen liefern, dann seine Feinde aufrüsten, sobald sich beide gegeneinander wenden, intervenieren, Bomben abwerfen, im Namen der Demokratie medial aufheulen. Eine Waffengeneration wird verkauft, erprobt, verbraucht, das Land zerstört und an der Wiederaufbauhilfe verdient. Daß dabei nicht nur menschliche Körper zerstört und zerstückelt werden, sondern auch Seelen, zeigt dieser Film überdeutlich. Unbedingt empfehlenswert, unter keinen Umständen vorher das Ende erzählen lassen!

»Die Frau, die singt«, Regie: Denis Villeneuve, Kanada 2010, 112 min, Kinostart 23.6.11