Die Wohnung – Rezension
In Tel Aviv wird die enge, zugestellte Wohnung einer Verstorbenen ausgeräumt. Sie war 98 Jahre alt. Kinder, Enkelkinder und Cousinen wühlen in Bergen von Dingen, die sie hinterlassen hat.
Währenddessen werfen Entrümpler schon Möbel und Müllsäcke aus dem Fenster im vierten Stock. Junge Frauen lachen ungläubig über die 92 Paar Handschuhe, 84 Handtaschen. Zwei tote Wiesel werden irritiert herumgereicht. Man vermutet, daß sowas früher um den Hals getragen wurde – eine witzige Szene. Sie macht das halbe Jahrhundert greifbar, das seitdem vergangen ist. Der Ich-Erzähler, einer der Enkel, Aron, widmet sich den Bücherwänden. Die Kamera fährt die Buchrücken ab: Shakespeare, Heine, Goethe. Ein Schätzer tritt hinzu, fragt: »Wer will das heute noch lesen?« Zumal in einer fremden Sprache (wie die Briefe in den Kisten mit den Fotos), auf Deutsch. Die Oma zu besuchen, war für Aron immer schon wie eine Reise nach Deutschland. Sie hat nie Hebräisch gelernt, er nie Deutsch, die beiden unterhielten sich auf Englisch.
Nichts habe man gedurft
Die Verstorbene sei sehr verschlossen gewesen, erzählt Arons Mutter Hannah, »immer Vorschriften« hätte es zu Hause gegeben, nichts habe man gedurft. Auf den Fotos ist die Tote eine schöne junge Frau, eingehakt bei einem Beamten: die Tuchlers. In einer Kiste stößt der Enkel auf einen Artikel aus der Nazi-Zeitung Der Angriff. Es geht in diesem Artikel um die Reise eines Grafen von Mildenstein nach Palästina. Im Auftrag der Nazis soll er Einwanderungsbedingungen »testen« und sich Wissen über Judenfragen aneignen. Ausgehend von diesem Fund, entwickelt sich eine Enthüllungsgeschichte, in deren Verlauf der Enkel von wildfremden Menschen mehr über seine Großmutter erfährt, als diese ihm selbst oder seiner Mutter je erzählt hat.
Transgenerationale Verstrickungen
Der Film »Die Wohnung« veranschaulicht transgenerationale Verstrickungen in historische Katastrophen. Er erzählt davon, wie sich die Enkelgeneration anschickt zu überwinden, was Opfer- und Täterfamilien gleichermaßen lähmt. Es geht auch um die unglaubwürdige Naivität, mit der die Nachfahren deutscher Täterfamilien häufig noch in der übernächsten Generation verdrängen und beschönigen. Das aber wird erst allmählich klar, tritt gegen Ende mehr und mehr in den Mittelpunkt.
Das kann nicht sein, das glaub ich nicht
Als Aron einer älteren Dame von Mildenstein den handgeschriebenen Lebenslauf ihres Vaters vor die Nase hält, schwarz auf weiß – das Dokument stammt aus dem Bundesarchiv –, leugnet sie immer noch: »Das kann nicht sein, das glaub ich nicht.« Mit einem Schlag gibt sie dann ihre Überfreundlichkeit auf. Im Moment der Preisgabe wirkt sie todernst und völlig ungekünstelt. Ein eindrucksvoller Vorgang, gekonnt eingefangen, die Bewußtwerdung scheint tatsächlich in diesem Moment erfolgt zu sein (etwa wie in Knut Elstermanns Film »Gerdas Schweigen«). Plötzlich weiß die Dame alles, und man begreift, daß sie vorher nur verdrängt, verborgen, verleugnet hat. Ihr Vater ist Leopold von Mildenstein, Vorgesetzter Adolf Eichmanns, der, von dem Eichmann in einem überlieferten Filmausschnitt sagt: »Der hat davon am meisten verstanden.« Nach 1945 war Mildenstein PR-Berater bei Coca Cola Deutschland.
Mich macht es traurig, dass es dich so unberührt lässt
»Die Wohnung« ist ein leiser Film, der wenig von sich her macht. Auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee sucht der nachdenkliche Aron in Begleitung seiner Mutter das Grab seines Urgroßvaters. Er fragt sie nur: »Warum geht es dich alles nichts an? Mich macht es traurig, daß es dich so unberührt läßt!« Statt nachzubohren, zeigt er dann nur die Wohnung der Mutter: wenige Sachen, pikobello aufgeräumt. Die Frau scheint nur in der Gegenwart zu leben. Was aber ist mit ihrer lieben, täglich Briefe an »das Hannahle« schreibenden Großmutter, seiner Urgroßmutter, passiert. Dieses Geheimnis wird gelüftet: Theresienstadt. Verschleppt, ermordet. Arons Mutter erinnert sich nicht. Ihr Gesicht bleibt starr. Der Zuschauer muß die Bruchstücke selbst zusammenfügen.
Bis zuletzt bleibt unaufgeklärt, wie Arons Großmutter dem Ehepaar Mildenstein nach dem Krieg freundschaftlich verbunden bleiben konnte. Familiengeschichte ist nicht vollständig rekonstruierbar. Sehr deutlich wird die Fremdheit der Exilierten, ihre Einsamkeit, aber auch das nur leise. Ein großartiger kleiner Film.