Discount Diaspora – Rezension
Eine Straße in Neukölln, auf der Bühne schräg zu sehen: Altneubau, dreckig, klein, eng, übereinandergekastelte Kleinstbalkone mit vereinzelter Deutschlandfahne, Topfpflanzenidylle, und Schüsseln zum Fernsehparadies, unten ein Handyshop mit Blinkleuchtschrift, oben drüber ein Loft mit gelangweilten Kleinkapitalisten, die sich eine Versteigerungswohnung „geholt“ haben. Es trifft weißes, kleinbürgerlich orientiertes Subproletariat auf aufstrebende Zuwanderer-Kleinhändler, neuerdings angereichert durch Versteigerungs-Schnäppchenjäger einer verkommenen Kapitalistenklasse. Daraus wird eine brisante Mischung, so im Leben wie auch in der Neuköllner Oper, die es wie in einem Brennspiegel betrachtet und auf die Bühne gebracht hat.
In einer Mischung zwischen Sprechstück und Oper ist es hier zu einer Fortsetzung des Publikumsschlagers: „Wunder von Neukölln“ gekommen, denn nun sind die Hoffnungen des weißen Proletariats auf Aufstieg (Häuschen in Falkensee) längst begraben, übrig geblieben ist ein Surrogat aus Hass und Resignation, der hier aber überspitzt und karikiert wird, daher trotz allem noch Überraschung, Witz und sogar vereinzelt Wärme hat. Die junge Verlorene Sindy, sehr weich gespielt von Jasmin Schulz, Ziehkind der letzten deutschen Alteingesessenen, sitzt nun nicht mehr an einer Kasse, wie ihre Vorgängerin aus dem Wunder-von-Neukölln-Spiel, sie verkauft nur noch sich selbst und wird durch den Stolz und die Weichheit, mit der sie gegeben wird, seltsamerweise zur Symbolfigur für ein „Dennoch“. Ihr Mitleid, sie ist die einzige, die um die „alte Hexe“ trauert und die „Matze“, Stefan Rüh, eine nur in Neukölln vorkommene Ungestalt, Warmherzigkeit entgegenbringt, wenn sie auch an den Verkauf ihres Körpers geknüpft ist, aber sie macht es ihm billig.
Die Figuren erzählen und spiegeln die Stadtgeschichte dieser 300.000 Einwohner zählenden ärmsten Großstadt Europas, wie es einmal im Spiegel vor Jahren hieß, Neuköllns und welchen Weg sie gerade nimmt, wider. Dabei wurde gut wie noch nie, der Hass der Weißen, Alteingesessenen, der „Deutschen“, in Gestalt einer einzigen Figur vorstellbar und sogar nachfühlbar gestaltet, glänzend gespielt von Barbara Wurster, preisverdächtig! Die „alte Hexe“ ist eine einsame Frau, deren Rest von Gefühl einzig einst der Sindy zu Gute kam, die sie mal irgendwo auflas, und die sie vor dem „Unrat auf der Straße“ bewahren wollte und es doch nicht geschafft hat.
Dieser ihr Hass zeigt sich blank, nackt, krass und wortreich, es ist ein Schwall von Beschimpfungen, gemeinen Worten, Rassismus, Ekel und Angst, die sie für die um sie herum anwachsenden Massen an anders aussehenden und woanders herkommenden Mitbürger übrig hat. Dies macht sich am Essen fest, sie hasst die fremden Gewürze und schwört auf „deutsche Küche“, das macht sich daran fest, dass ihr schon der unmittelbare Gang vor die Haustür verhasst ist: „Die fremden Soldaten haben die Straßen erobert“ das sagt sie den Menschen um sie herum auch blank und frei ins Gesicht: „Ich mag euch nicht!“ Punktgenaue Dialoge, die man so noch nicht auf einer Bühne sah, weil man dies nie bisher derart in den Blick nahm, aber alle in Rütli-, Weser- und Weisestraße von Neuköllns Norden den Menschen direkt vom Munde abgeschaut, dazu sehr gut gespielt. Und dadurch auch beginnen wir uns zu wundern: Warum dauert uns trotzdem diese Person? Und das ist nun wahre Kunst und dessen Umsetzung im Textbuch, großer Dank an die Autoren, Feridun Zaimoglu und Günter Senkel, nein, sie verteilen keine persönliche Schuld, großartig die Szene, wo der türkische Handyladenbesitzer die „alte Hexe“ liebevoll in die Arme nimmt und küsst, sie wissen und zeigen es, dass die Menschen Ausdruck ihrer sie umgebenden und ihnen mitspielenden Verhältnisse sind und so gelingt also hier „proletarisches Theater“. Und die Klasse, die sich neu nach Neukölln eingeschlichen hat und in Neukölln emporgewachsen ist, „ich kenne hier jede Ratte“, steil nach oben aufgestiegene Neureichkapitalisten, mit Geldschränken voller Zaster, Versteigerungsjäger alter Wohnungen, wird diese Klasse nun schuldhaft verantwortlich gemacht für Hass, Elend, Kaputtheit und Dreck? Nein, nur gezeigt werden sie, wie verkommen sie sind, wie ausgetrocknet beide, die Frau in ihrer Emotionalität, der Mann in seinem Lebensschwung, den er dem Kapitalismus ins Maul warf, „früher hatte er Biss“, wie elend auch sie in ihrer geldreichen Großartigkeit. An ihnen wird deutlich, wie zu viel Geld zu haben, langweilt, besonders dann, wenn man vorher keinen anderen Lebenssinn kannte, als welches zu „machen“. Er liebt Sindy und will sie kaufen, aber diese ist stolz und bleibt standhaft, das kommt sehr sanft daher, wie nebenbei und schwächt damit dieses typisierte Klischee ( siehe:„Das Wunder der Frauen“, Zola), deutlich ab.
Der Handyladenbesitzer verwandelt sich am Ende in die Kunstfigur „Superman“ und symbolisiert, in dem die Toten, die im Laufe des Stückes, wie nebenbei entstanden sind, wieder aufstehen und mit vorgestreckten Fäusten mit ihm ziehen, den noch zu organisierenden Widerstand des Viertels gegen die drohende Gentrifizierung.
Einzigartig sind die Rollen der alten Hexe und des Matze besetzt, die Originalität dieser Figuren lohnen mindestens drei Wiederholungsbesuche, in denen sich der Spaß vervielfältigen wird, das garantiere ich, und so glaube ich voraussagen zu können, dass dieses Stück mindestens so ein Schlager wird wie das Wunder von Neukölln. Ein kleiner Beitrag vielleicht dazu, dass Neukölln doch bleibt, besonders, wenn es sich Stadtvertreter ansehen, die vielleicht noch den kompletten Versteigerungswahn verhindern könnten, nichts wie hin, sofort! Auch tolle Musik mit einem tollen Ensemble, sehr passend komponiert von Vivan und Ketan Bhatti, absolut lohnenswert.