Kinderfilme auf der Berlinale – Die Kraft der Schwächsten Berlinale – Rezension
In der diesjährigen Kinder- und Jugend-Berlinale ( K Plus und K 14 Plus) geht es oft um alleingelassene Kinder, die sich trotzdem gut durchschlagen. Kinder, die unter den Problemen der Erwachsenen nicht zerbrechen, sondern stärker werden, aber wo deutlich wird, dass es die Probleme der Erwachsenen sind, der Umstände und Bedingungen und nicht ihre eigene Schuld.
Diese Sicht der Dinge wird in den Filmen, die ich bisher gesehen habe, eindrucksvoll gestaltet und das gibt Mut. Warum? Weil die übliche Sicht des Mainstreams anders herum ist. Allüberall heißt es: Kinder sind lernschwach, daher auffällig, Kinder sind sozial schwach, daher aggressiv. Populistisch sind die Kinder an allem schuld. Das Letzte sagt zwar keiner so definitiv, aber da heißt es dann: Kinder hätten heutzutage keinen Respekt, keine Höflichkeit, keinen Anstand mehr, Kinder seien frech, anstrengend und würden nerven, könnten sich nicht benehmen, pflegten keine Interessen, könnten weder schreiben noch lesen, seien unsportlich. Und so kommt man zu der Ansicht, Kinder müssten von Erwachsenen erst mal wieder „richtig“ hingebogen werden. Dass Kinder viel Kraft haben, von der sie nicht allzu selten an ihre Eltern Unmengen abgeben müssen, das wird weniger in den öffentlichen Blick genommen.
Morgen wird alles besser – Jutro bedzie lepiej
Dazu haben die Berlinale Kinder- und Jugendfilme jeweils etwas zu erzählen. Sie tun dies aus verschiedenen Blickwinkeln, einmal mehr von ganz unten, einmal mehr aus der Mitte, zum dritten Mal mehr aus Sicht der oberen Gesellschaftsschichten. Mir haben die Filme von ganz unten am besten gefallen. Der Film: „Morgen wird alles besser“ Jutro bedzie lepiej von Dorota Kedzierzawska gehört dazu, eine russ.-poln. Koproduktion, ich war bei der Premiere, das Filmgeschwisterpaar war dabei und sie sahen verblüffend anders aus. Im Film hatten sie lange Haare, waren überaus schmutzig und wirkten noch sehr kindlich, obgleich sie die schwierigsten Dinge zu meistern hatten, hier waren sie nun wie aus dem Ei gepellt, in Anzügen, die Uniformen ähnelten, mit streng-kantigen Kurzhaarfrisuren und notwendig ein wenig älter geworden. Doch lachten sie später genauso in die Blitzlichtgewitter, wie sie im Film auf ihrer Abenteuerreise gelacht hatten.
Von Rembrandt inspiriert
Der Film war großartig, zu Beginn Bahnhofstüren, immer wieder Kinder, die durch Bahnhofstüren rasen, Schwingtüren, durch die man mit den Händen voran, sie aufstoßend, einfach nur rennen muss und die dann hin- und zurückschwingen in der dunklen und kalten Bahnhofszugluft, die man förmlich auf der Haut spüren konnte, gleich in der ersten Einstellung, deren Farben Rembrandt inspiriert zu haben schien, alle Figuren hell aus dunklem Hintergrund kommend, Brauntöne. Zwei Kinder rennen bis sie zu ihrem Schlafplatz, einer Bank, wo der ältere, er mag elf sein, oben, der jüngere, fünf, sechs vielleicht, unten, auf einer Pappe schläft, die Kamera folgt dem Blick des Jüngeren durch die Stäbe der Bank zu seinem Bruder hinauf, es ist Nacht, die Bahnhofslampen geben nur spärliches Punktlicht, es gibt Streit um eine weggeworfene Kippe, die der Jüngere genüsslich raucht, dabei lachen sie und eine schwarze, zum Teil abgebrochene Milchzahnreihe wird sichtbar, dazu das helle Lachen dieses kleinen Straßenkindes, das einem durch Mark und Bein geht. Großeinstellungen des kindlichen Mundes, der an der Zigarette wie an einer Süßigkeit saugt, weiche Einstellung, Großaufnahme.
Vasja! Vasja! Nimm mich mit!
Schlafen ist nur wie ein kurzes unscharfes Dämmern möglich, der Kleine muss immer auf der Hut sein, denn sein Bruder hat mit einem größeren Jungen etwas ausgeheckt, was er belauschte, sie wollen abhauen und den Kleinen zurücklassen. Als das tatsächlich geschieht, läuft der Kleine über tausend dunkle Gleise hinterher, „Vasja! Vasja!“ „Nimm mich mit!“ Daraufhin sieht man den größeren Bruder am Ende den kleineren verprügeln, das wird sehr kunstvoll in Standbildern festgehalten, mit abgedämpftem Ton, man sieht sie ihn dann aber doch in den Güterwagon hochziehen und als alle erschöpft beieinander lehnen, sieht der ältere Bruder Vasja, als der Zug kurz steht, in einem Haus eine Mutter, die ihren Säugling hochnimmt, diesen umarmt, an sich drückt und liebevoll zu Bett bringt, die Szene ist nur kurz, unspektakulär, aber sie löst etwas aus in ihm, er beugt sich zu dem an ihm liegenden, schlafenden Bruder hinab und küsst ihn wild ab, das ist eindrucksvoll und sehr berührend gestaltet, da dieser Gefühlsausbruch wie aus seinem Inneren, beinahe gegen seinen Willen in ihm aufbricht, eine plötzliche Welle von Liebe dem Schlafenden gegenüber, wie er sie nie für den Wachen hat. Tagsüber möchte Vasja seinerseits dem älteren Freund imponieren und oft ist die Sorge für den Kleinen auch anstrengend für ihn. Nur manchmal kann man ihn auch gut gebrauchen. Immer dann, wenns ums Betteln geht, denn da kann Petya bestechend charmant sein, speziell zu Marktfrauen an Brotständen.
Blödsinn. Das ist eine Schnur!
Eine Reise zu Fuß über Bahngleise, die zur Grenze führen, Richtung Westen, man sieht die Kinder endlos, durch Gras überwucherte Wildnis, über Bahnschwellen wandern, zu einer Grenze, hinter der es besser sein soll als zuhause. Die Grenze ist durch elektrische Zäune gesichert, darunter hindurch zu klettern, lässt der ältere Junge die beiden vorher an ausgespannten Schnüren im Wald üben. Köstlich die Szene, wo der Ältere von der Elektrizität der Schnur doziert und der kleine Petya entwaffnend schlau immer wieder die Schnur berührt und sagt: „Blödsinn. Das ist eine Schnur!“ Durch viele solcher Kleinigkeiten ist der Blickwinkel des jüngsten Kindes unglaublich gut getroffen, aus ihm ist der ganze Film gedreht und gewinnt der Film seine große Überzeugungskraft, er könnte für ein neues Jahrhundert des Kindes stehen, für das, was der große Pädagoge Januz Korczak einst in Polen realisierte, ein Niederknieen vor den ungeheuren Fähigkeiten von Kindern, vor ihrer noch frischen, ungebrochenen und kaum je zu brechenden Kraft, an die Hoffnung zu glauben auf ein besseres Leben. Die Kinder erleben auf ihrer Reise eine Einsamkeit und Verlorenheit, die selbst dem Zuschauer, im warmen Kino sitzend, Angst macht, aber helfen sich durch ihr Lachen, ihre Einfälle, ihre sozialen Fähigkeiten, die sie sich als Straßenkinder, mit meist strengem Ehrenkodex, angewöhnt haben, doch ist das aber oft auch hart, rau, gemein. Die Kinder wirken vorgereift, aber auch frühzeitig hart gemacht, sie laufen schon mit Schalen um ihre Seelen herum, die nur ab und an manchmal aufbrechen. Petya als der Jüngste, hat hier die Funktion, diese Kindlichkeit noch sehr stark zu repräsentieren, immer wieder gibt es Szenen verblüffender Kindlichkeit. Wunderschön die Szene, wo Petya mit dem dreckigen Daumen im Mund daliegt, wo er seinem Teddy zu essen gibt und ihn küsst, die Kunst, solche Szenen nicht kitschig wirken zu lassen, sondern echt, ist hier vollkommen vorhanden, nicht eine Szene hat Kindertümelndes. Immer wieder ergeben sich Situationen, wo die Kinder den Kleinen zurücklassen wollen, immer wieder entdeckt Petya, was sie vorhaben und vereitelt es im letzten Moment.
Spielen mit einem kleinen Käfer
Einmal kommen sie zu einem alten einsamen Mann, der bei einer alten riesigen Industrieanlage Wache hält, der möchte gern den Petya behalten, er drückt ihn an sich, er schmeichelt ihm, was für ein süßer Junge er doch sei und dass er ihm zu essen und zu trinken geben würde, aber Petya lässt sich nicht eine Sekunde täuschen, er spürt und man fühlt es mit ihm, dass die vermeintliche Liebe des Alten nichts als pures Besitzergreifen zur Stillung der Einsamkeitssorgen des Alten ist, Petya flieht, läuft dem Laster mit den großen Kindern hinterher bis der anhält, sie schaffen nicht, ihn zurückzulassen, wenn er es nicht will. Der Film lebt durch viele kleine Nahszenen, so das Spielen mit einem kleinen Käfer auf den Händen des Petya, das Organisieren von Wasser mittels zweier aneinandergebundener Flaschen an einem langen Seil, das sie von Brücken herablassen. Der Höhepunkt ist das schwierige Unterfangen, in tiefster Nacht unter den elektrischen Zäunen hindurchzukriechen, hier sieht man die Großen das erste Mal den kleinen Bruder suchen, der nach seinem erfolgreichen Hindurchkrabbeln, auf der anderen Seite sofort eingeschlafen war. Als sie in Polen im ersten Dorf ankommen, rufen die dortigen Kinder im Takt: „Wer bist Du? – ne russische Schlampe! Was ist Dein Zeichen? – ne leere Wampe!“ Lyapa, der ältere Freund, sagt: „Irgendwann kommen wir wieder zurück“ „Wirklich? Wie denn?“ „Wir kommen als Könige zurück.“
„Bad oh meh“ Flucht vor den Ölfeldern
Nach diesem Film beschäftigt sich noch der iranische Film „Bad oh meh“ von Mohammad Ali Talebi mit armen Kindern, in diesem Fall welchen, die vor brennenden Ölfeldern und den Grausamkeiten nicht verbotener Waffen fliehen, und ein kleiner Junge, der verstummt war, lernt nicht nur durch den Trost seines Großvaters, sondern durch die Verletzungen einer kleinen Wildgans, die ihn an seine Mutter erinnert, wieder in die Welt zurückkommen. In der Erinnerung kann der gefangene Schmerz an die Freiheit gelangen. Dieser Film hat einzigartig schöne Naturschaubilder zu bieten, die dem Bombenterror und den Ölbränden entgegengesetzt werden.
„El chico que miente“ – Erinnerungen befreien Schmerz
Seiner Erinnerung geht auch der venezolanische Film von K-14 Plus nach: „El chico que miente“, „Der Junge der lügt“ von Marite´ Ugas. Man sieht ebenfalls einen Jungen eine lange Reise unternehmen, diesmal geht sie entlang der venezolanischen Küste, er sei 13, sagt er und suche seine Mutter, aber seine wie automatisch klingenden Antworten machen die Leute misstrauisch. Das Eindrucksvollste an diesem Film sind die Bilder aus den kaputten Hochhäusern der Schlammlawinengebiete, dort leben Menschen in riesigen Ruinenstädten, wo die Betonplatten an wenigen halblosen Eisendrähten, übereinanderkippend vom Himmel herab zu schweben scheinen. Die Erwachsenen laufen wie Zombis herum, verzweifelt durchsuchen sie immer noch die Schlammböden nach Überresten ihrer Familienangehörigen und deren Hausstände. Die Szene wirkt wie aus einem S-fiktion-Film. Der Vater des Jungen und er selbst lebten hier eine unbekannte Zeit lang, die im Film nur bruchstückhaft und in Rückblenden sichtbar wird.
Eine rote Kette
Hier scheint irgendwann aber die Reise des Jungen seinen Ausgang genommen zu haben, denn er kam dahinter, dass sein Vater ihn über seine Mutter belogen hatte. Warum soll er dann die Wahrheit sagen, zumal er sie gar nicht kennt? Am Ende findet er die Frau, die die Austern verkauft, in einer etwas irreal anmutenden Szene, begegnen sich am Ende zwei fremde Menschen. Sie kennt ihn nicht, doch er hängt ihr eine rote Kette aus der Schublade des zerstörten Hauses an den Nagel ihres Verkaufstisches und geht.
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