Pünktchen und Anton – Rezension
jw / Feuilleton / 30.11.11
Das neue Kinder-Sozialdrama von Volker Ludwig geht am Ende gut aus, aber dazwischen ist es ganz schön aufregend und manchmal unheimlich – das empfohlene Alter (ab neun Jahre), das bei der Premiere am letzten Samstag angegeben wurde, ist jedenfalls unbedingt ernst zu nehmen.
Die Protagonisten, Pünktchen und Anton, sind zwölf und vierzehn. Pünktchen ist ein Mädchen aus gutem Hause, Vater Immobilienmakler, Mutter Charity-Queen, beide erlebt die Tochter sehr selten abends, »keine Zeit« ist der häufigste Zweiwortsatz, den die Tochter von ihren Eltern zu hören bekommt. Für ihre »Versorgung« gibt es eine Haushälterin und ein Au-Pair-Mädchen aus den USA.
Das Jäckchen zu 980.- Euro
Die Geschichte beginnt in einer 12-Zimmer-Villa im Grunewald. Vom schlicht eingerichteten Wohnzimmer ist ein Bild auf die Leinwand hinten projiziert, darüber fährt die Haushälterin mit dem Staubsauger, was komisch aussieht. Das Au-Pair-Mädchen räkelt sich auf einem Sofa und telefoniert mit Bobby, der wohl ihr Liebster ist; Pünktchen (sehr authentisch gespielt von Jennifer Breitrück) macht die affektierten Bewegungen des Au-Pair-Mädchens nach, nimmt drei herumliegende Telefone auf, ahmt die Mutter nach, was der Vater nicht gutfindet. Dann kommt die Mutter (Katja Hiller: herrlich karrikiert, Glanzleistung), in der Hand eine Boutique-Tasche, bewegt sich genauso, wie es die Tochter vorher imitiert hatte, und holt ein silbernes »Jäckchen« heraus, das 980 Euro gekostet hat.
Ich mach Dich Müllkippe
Das Au-Pair-Mädchen ist sauer, weil sie bei der Tochter bleiben soll, obwohl sie verabredet ist; die Haushälterin hat auch etwas vor. Pünktchen aber nimmt es relativ locker, dass sie wie eine Verschiebemasse behandelt wird, denn sie hat nur eins im Sinn, sie will ihr Au-Pair dazu überreden, in der Nacht zum Bahnhof Friedrichstraße gehen zu dürfen. Eben dort spielt dann eine neu interpretierte Linie-1-Szene: Ein Pennerpärchen, sie abgerissen, mit Plastiktüten und Trödelpelz (unglaublich gut gespielt von Regine Seidler), er ein sich im Anzug noch eben gerade haltender Gesellschaftsverlierer. Dazu hin und her rennende Leute. Das Au-Pair-Mädchen wird zur Straßensängerin, als Bobby dann kommt, geht sie mit ihm ab, obwohl Murat, der Dönerbudenbesitzer, doch auf sie aufpassen soll. Murat zu Bobby: »Ich mach dich Müllkippe« (Jörg Westphal: klasse!). Aus dem Off: »Kann jemand sagen, warum das hier Spree-Athen heißt? Weil Berlin genauso pleite ist.«
Sein Essen holt er aus dem Mülleimer eines Supermarkts
Nebenbei wird ein unscheinbarer Junge sichtbar (sehr gut gegeben von Florian Rummel). Er drückt sich an Ecken herum, sammelt Flaschen auf, blickt schüchtern um sich. Pünktchen wird auf ihn aufmerksam. Der Junge, Anton eben, will nicht, dass sie etwas über ihn erfährt, denn er darf niemandem etwas von sich erzählen, er darf auch niemanden mit nach Hause bringen. Sein Essen holt er, zum Entsetzen von Pünktchen, die ihm unbeirrt nachläuft, aus dem Mülleimer eines Supermarkts. Er koche selbst, erzählt er der erstaunten Reichentochter, sie bettelt, mitmachen zu dürfen, Anton fasst Vertrauen, aber Pünktchen schneidet das Gemüse verkehrt herum. Alle lachen.
Verfolgungsjagden, Lieder und Tänze
So machen sich soziale Unterschiede auch für Kinder bemerkbar. Anton und seine Familie sind »illegal«, Pünktchen weiß gar nicht, was das ist. Später gibt es eine Verfolgungsjagd mit der Polizei, die Haushälterin Berta (köstlich steif und altjüngferlich gespielt von Michaela Hanser) schlägt sich auf die Seite der Kinder. Dann gibt es immer wieder Tanzszenen, die kraftvoll und einfühlsam choreographiert sind. Nach der Pause leider eine Alptraumszene, die eine Tendenz zur Übertreibung hat, sehr untypisch fürs Grips-Theater: zu viel, zu lang, zu dick aufgetragen. Schade. Auch Blut, selbst einmal kurz , ist zuviel.
Einen tollen Kästner
Sonst ist das Stück nach Kästner aber ein großer Wurf, sozialkritisch führt es Kinder auf spielerische Weise an große und wichtige Themen heran, die Schauspieler sind allesamt Könner, die Klassenwidersprüche werden gut zugespitzt. Die Lösung ist deutlich nur eine vorübergehende und man muss auch noch etwas dafür tun, demonstrieren, die überraschend gewandelte Mutter: »Die Atomkraftwerke hat man ja auch mit Demos weggekriegt!« ist kindgerecht. Aber auch hier nicht nur tröstlich-illusionär, sondern abwartend, sie muss sich erst bewähren, es wird sich noch zeigen müssen. Ein offener Schluss.
Einen tollen Kästner haben wir da in der Stadt: Volker Ludwig. Er hat das Stück den Kindern zu Ehren neu geschrieben, für die Kinder, für die es heute schon wieder heisst: »Morgen Kinder, wird’s nichts geben!/ Nur wer hat, kriegt noch geschenkt./ Mutter schenkte euch das Leben./ Das genügt, wenn man’s bedenkt./ Einmal kommt auch eure Zeit./ Morgen ist’s noch nicht soweit./ Doch ihr dürft nicht traurig wer’n./ Reiche haben Armut gern.« Erich Kästners »Weihnachtslied, chemisch gereinigt«.
»Pünktchen trifft Anton«, von Volker Ludwig nach Erich Kästner, Regie: Frank Panhans, Grips-Theater Hansaplatz, Berlin; nächste Aufführungen: heute bis 2.12., 10.30 Uhr, 9.–16.12., 10.30 Uhr, an Wochenenden 16 Uhr