Tschick in Senftenberg – Rezension
Das Jugendmärchen Tschick von Wolfgang Herrndorf feierte am Wochenende an der Freien Bühne Senftenberg in der Regie von Tanja Richter Premiere.
Es soll den Jugendlichen, die zu groß für Weihnachtsmärchen sind, im November und Dezember vormittägliche Theaterbesuche ermöglichen. In diesem Stück können sie Menschen ihrer Klasse vorfinden und nebenbei vielleicht einige weit verbreitete Vorurteile überwinden.
Alkoholiker sind auch manchmal lustig
Zum Beispiel, dass alkoholisierte Menschen nichts als Horror für ihre Kinder sind. Nein, sie können auch manchmal lustig, widerständig und unkonventionell sein. Oder, dass Kinder reicher Leute nur Erfolg und keine Probleme haben, nein, sie haben durchaus Probleme, nämlich die der Isolation und des Alleingelassenseins, jedenfalls in diesem Fall. Ebenso, dass Russlanddeutsche blöd, dumm, rechtsradikal und schwulenfeindlich sind, nein, Russlanddeutsche können erfinderisch, mutig, schlau sein und sich nachher sogar als schwul entpuppen, wie in diesem Fall. Aber das ist es nicht allein, was an diesem Stück in Senftenberg überraschend und gut gelungen ist.
Betonung des Absurden
In dieser Inszenierung wurde viel weniger das Abenteuerliche, als das Absurde der ganzen Sache betont. Die Bühne (Michael Böhler) ist eine hellblaue Sternchentapetenwand aus Steroporplatten, die im Laufe des Abends mit bloßen Fäusten jeweils funktionell so zerschlagen wird, dass sie wahlweise als Treppe, Haus, Wald, Müllberg, Party und Pool-Hintergrund genutzt wird, was durch die Unähnlichkeit dieser Wand mit all dem deutlich macht, dass Jugendliche sich ja meist Ausflüge in dieser Art nur in ihrer Vorstellung „leisten“ können, real sich dagegen zwischen abgelegten Sperrmüllhaufen „herumtreiben“ dürfen.
Das gefrorene Eis der Seele zerschlagen
Ebenso unwirklich wirkt eine blaue Plastikwanne, in die in bestimmten Abständen aus einer Luke zerschlagenes Eis gekippt wird. Das kafka´sche Bild vom gefrorenen Eis der Seele, dem das Buch eine Axt sein muss, wird hier insofern umgesetzt, als mit jedem Eisschüttungsvorgang die beiden Protagonisten etwas von ihrer Vermauerung verlieren und sich näher aufeinander zu bewegen.
Wie Phönix aus der Asche ein Mädchen
Dann wird ein mannshoher Haufen alter Schläuche krachend aus einer Hauswand gekippt. Die Jungen suchen einen Schlauch, klar, aber dies ist mehr: Industriemüll, Plastikverseuchung, Erbe, mit dem sich die Jugend beschäftigen muss. Aus ihr steigt wie der Phönix aus der Asche ein Mädchen hervor, erst keift es, dann liebäugelt es, verwirrend und symbolhaft das ganze Bild.
Sie könnten sich auch alles nur vorgestellt haben
Auch noch durch anderes hat dieses Jugendstück hier etwas Märchenhaftes. Realistisch und wieder doch nicht realistisch wird auch das Roadmowiehafte der „Urlaubsfahrt“ verbildlicht. Kein Auto, sondern eine alte Radiostereoanlage, auf der sie „reisen“, weg von der Party, auf die beide nicht eingeladen sind. Die Inszenierung nimmt das Buch auf der gestalterischen Ebene im Ganzen gesehen oft als Metapher. Sie könnten sich auch alles nur vorgestellt haben. Das ist eine tiefergehende Interpretation und zeigt den vieldeutig literarischen Wert dieses Stoffes. So können im Land der selbstausgedachten Abenteuer 14-jährige Auto fahren und Gefallen an Sternen im Himmel haben, sich Landschaft anschauen und diese viel „besser als Fernsehen“ finden.
Mutter, Ökofrau, Kinder
Auch die Mutter, die Ökofrau, die Kinder, das Mädchen Isa, der Vater und spätere Militär-Einsiedler, der sich als „Kommunist bei Röhm“ bezeichnet und sowohl das Wesen und Ende des Faschismus, wie das der DDR verpasst zu haben scheint, alle auftretenden Figuren haben einen leichten Hang ins Absurde.
Es macht keine Angst, amüsiert
Das Spiel der Figuren ist oft übertrieben, oft unreal, kippt in den Emotionen weg, ist hektisch, doch macht auch das Schlimmste den Jugendlichen scheinbar gar keine Angst, es amüsiert sie nur. Auch dies Element wirkt absurd und dient der Charakterisierung jugendlicher Identität zwischen Grübelei und Unbekümmertheit. Manchmal eine gefährliche Gradwanderung für alle Beteiligten. Aber es gelingt. Dieser Tschick sagt uns durchaus etwas Besonderes.
Maik Klingenbergs Debüt: Gelungen
Großartig das Spiel von Johannes Moss, der den Tschick mit einer solchen Lässigkeit, Kraft und Echtheit gibt, dass man kaum glauben kann, dass er selbst keineswegs ein sogenannter Russlanddeutscher ist; Simon Elias, der den Maik Klingenberg in seiner Mischung aus Steifigkeit, Schüchternheit und Staunen so gekonnt gibt, kann man in keinster Weise abnehmen, dass dies sein Bühnendebüt ist, alle Achtung! Gelungen! Eine besondere Interpretation des Tschick, preisverdächtig!