Verrücktes Blut im Ballhaus Naunynstraße – Rezension
Postmigranten im Theater haben jüngst eine Antwort auf die Sarrazin-Thesen gegeben, allerdings nicht ethnisch sondern sozial (im Programmheft durch Schiller-, Marx- und Gramscizitate untermauert). Sie haben dabei etwas Erstaunliches geschafft: Die sozialen Probleme in ihrer eigenen postmigrantischen Gesellschaft extrem scharf zu skizzieren und dann die Bühne zu einem überraschenden Ort des sozialen Wandels zu machen. Das Theaterstück „Verrücktes Blut“ am Ballhaus Naunynstraße, in der Regie von Nurkan Erpulat, mit der das Ballhaus jüngst über die Grenzen Deutschlands bekannt wurde (große Besprechung in Theater heute u.w.) ist ein eigenwilliger und erstaunlicher Versuch der Kommentierung der Sarrazin-Thesen.
Die Waffe als Methapher
Die aus dem Pariser banlieue-Film „La journeé de la Jupe“ übernommene Überspitzung, dass eine überforderte Lehrerin nur mit vorgehaltener Waffe ihrer Schüler Herr wird, wird im Theaterstück allerdings als Methapher und nicht als echte Amoktat genommen, wie im Film. Eine Methapher für das Durchdringen der Vernunft gegen die von geborgten Schein-Machtsphantasien aufgefüllten männlich, sich selbst entfremdeten Jugendlichen (Pinar Selek: Zum Mann gehätschelt – Zum Mann gedrillt). Die Vernunft setzt sich brüllend, beleidigend, mit dem Holzhammer auf die Köpfe durch, dafür steht die in der Hand der Lehrerin zitternde Pistole. Die Vernunft hier ist Schiller, der die bürgerliche Gesellschaft als ein System des Egoismus kritisiert, die Entfremdung produziere und Kunst als katalysatorische Form von Mitteilung betrachtet, die abgespaltenen Momente wieder zusammenführen kann, im Spiel, da hier der Mensch wieder „ganz Mensch wird“, also zu sich selbst komme.
Deli Machismo
Verrücktes Blut von „deli“ = verrückt und „kan“ = Blut, leitet sich vom türkischen Ausdruck für Heißsporn ab, dortiges Wort für Machismo, der im Text als die spezifische Verarbeitung deutlich wird, mit der die türkischen Jugendlichen auf Demütigungsverhältnisse reagieren. Einem Krieg nicht unähnlich, den die Lehrerin mit Hilfe der Vernunftkeule Schiller in einen echten Identitätsfindungsprozess umzulenken versucht. Nicht einfach, dafür steht die Pistole, aber nicht etwa für die Notwendigkeit autoritärerer Erziehungsmethoden, wie die Rezipienten von Bild bis Spiegel kurzsichtig schlussfolgerten, wo neuerdings schon wieder offen über das Verbrennen von Stofftieren zur Disziplinierung von Kindern nachgedacht wird und Methoden der schwarzen Pädagogik fröhliche Triumphe feiern.
Angst dürstet nach Befreiung
Die Bühne im Ballhaus ist eine Eislauffläche, drumherum sitzende Spieler, die sich vor den Zuschauern erst ausziehen um sich dann langsam in das Standbild einer Kreuzköllner Jugendlichenklasse zu verwandeln, provozierend, sexualisierend, aggressiv. Das Bild löst sich auf in Bewegung, man sieht Revierkämpfe extremer Art, hört die typische Kanaksprak, ständiges In-den-Schritt-fassen, Beschimpfen der Mädchen als Nutten und Schlampen, die hereinkommende Lehrerin wird ignoriert, spricht ohne Ton wie eine lächelnde Maske. Dann die Gelegenheit, eine Waffe fällt aus einem Rucksack, sie nimmt sie auf, alle liegen auf dem Boden, zittern, die Angst wird nun sichtbar, die alle beherrscht. Da zitiert die Lehrerin Schiller: „Mein Geist dürstet nach Freiheit“ und „Der Mensch spielt nur da, wo er ganz Mensch ist und ist nur da ganz Mensch, wo er spielt – Spielen wir also!“ Nun zwingt sie die Jugendlichen in Szenen, in denen diese beginnen sich wiederzuerkennen und die etwas in ihnen bewirken, Selbsterkenntnis, Annäherung, Durchschauen der Rolle, die jeder spielt bis zur Entmachtung des an der Spitze der Klassen-Hierarchie Stehenden und der Verwandlung seines Opfers, des Kurden in Franz Moor, den Kältesten. Ein symbolträchtiges Spiel von Befreiung und Wandlung mit Hilfe einer Kunst, die Vernunft sein will, die Entfremdung aufhebt, auch die Frauen emanzipieren sich, allerdings anders, als die Lehrerin gedacht hatte, das abgeworfene Tuch wird zur Fesselung des Aggressiven benutzt, die Pistole wird aus der Hand gerissen, die Eskalation bleibt aus. Ein vielschichtiges Stück, besonders, als zum Schluss die Lehrerin sich selbst als türkisch“stämmig“ outet und damit ihre Wut und die fehlende Scheu die Landsleute Primaten zu nennen, nachfühlbarer wird.
Echtheit und satirische Einlagen
Die Postmigranten in unserer Gesellschaft melden sich immer öfter selbst zu Wort, ihnen, nicht Herrn Sarrazin und seinen Leuten gehört die Zukunft. Ins Ballhaus Naunynstraße kann man gehen, wenn man zu diesem Thema etwas wirklich Gutes lernen will. Zur Machart: Einzigartige Echtheit in den Bewegungen, Handlungen, der Sprache und Körperhaltung der Jugendlichen, wunderbarer Ernst und Witz im Spiel der Lehrerin, sehr gute V-Effekte durch Deutsches Liedgut (Nun ade´ du mein lieb Heimatland, lieb Heimatland ade´), satirische Einlagen köstlich gut getroffen, minimalistisches Bühnenbild durch Symbol der Eisfläche gut ausgedacht, ein ganz klein wenig Straffung der Dramaturgie hätte dem Stück nicht geschadet, einige Wiederholungen wegstreichen, sonst perfekt! Herausragend die Schauspielerinnen Sesede Terziyan als Lehrerin und Nora Abdel-Maksoud als Kopftuchschülerin.