Was will das Meer dir sagen? Wenn Geistigbehinderte Theater spielen – Rezension
in jw, 28.6.07, von Anja Röhl
Früher saß man dort zwischen gelagerten Baustoffen und eingezogenen Wänden in einer eiskalten Ruine, später galt die Jakobikirche in Stralsund als Geheimtip für unkonventionelles Theater und besondere Musik, und nun eröffnet die sogenannte Kulturkirche einen großen Bauabschnitt im Turmbereich mit einem Kulturfestival. In diesem Rahmen gab es bislang Musik, Lesung, Kunst, Oper und auch die Fachtagung »Jugend und Sucht«. Außerdem kann man sich das Theaterstück »Vom Meer« anschauen, ein zweigeteiltes Stück, inszeniert von Gerd Franz Triebenecker.
Der erste Teil besteht aus Dialogen zwischen einem älteren Mann und einer jungen Frau am Strand einer Robinson-Insel, in denen es um neuzeitliche Einsamkeit und Endzeitstimmung geht. Der zweite Teil ist ein balladenhaftes Pantomimenstück um das liebende Paar eines Fischerdorfes, das durch die Bosheit schlimmer Dorfbewohner voneinander getrennt wird und am Ende wieder zusammenfindet. Während der erste Teil von Sprachinhalt und -klang lebt, wirkt der zweite Teil durch seine beinahe bildnerischen Gruppendarstellungen und seine Celli-Kammermusikkomposition von Luca Carbonara.
Sie spielen es ausdrucksstärker
Was die Schauspieler allerdings da auf die Bühne bringen, ist mehr, als man je von einem Theaterensemble geistig behinderter Menschen erwartet hat. Die Schauspieler leben größtenteils in Behinderteneinrichtungen der Stadt Stralsund und haben alle ein besonderes Interesse am Theaterspielen. Ihr Ensemble heißt Die Eckigen. Nicht nur, daß sie genausogut spielen wie Nichtbehinderte, nein, sie spielen es besser. Sie spielen es ausdrucksstärker. Sie tragen ihre Rollen im Gesicht, in Blicken und Mundbewegungen, im Gang, in der Haltung, in Kopf- und Körperform, in den wenigen Lauten, die sie abgeben, in den Gesten und schon in den ersten Schritten, mit denen sie nacheinander von vorn auf die Bühne treten. Es liegt eine Choreographie besonderer Art vor, wie diese Menschen das Volk, aber auch die Einzelpersonen spielen; sie schaffen es, aufgrund ihrer eigenen Vielfältigkeit eine noch größere Vielfalt zu repräsentieren, als es jemals Nichtbehinderte hinbekommen würden.
Nichts Verkindlichendes
Und niemals kommt hier etwas Verkindlichendes auf, was sonst bei Behindertentheatern in sozialen Einrichtungen weit verbreitet ist. Immer sind ihre Rollen von großer Ernsthaftigkeit und Tragik. Im ersten Teil sagt die junge Frau: »Faß mich mal an … nee doch nicht, laß mal … Gleich kommen die anderen … … früher war ich süchtig nach Sehnsucht … … ich hatte sogar einen Beruf… …Ich bin immer gegangen, ich wollte nie einen wiedersehen …«. Der ältere Mann antwortet: »Wir haben keinerlei Verantwortung übernommen – Schuld hast du immer … das Meer verspricht dir alles, wenn du mit einer Rückfahrkarte am Strand stehst, aber hier hat es nichts, gar nichts zu bieten … … wenn die Wiederkehr in die Städte fern ist, zeigt das Meer dir seine Fratze … Zeit, die vergeht, quält …«.
Große Gefühle sparsam choreografiert
Die Behinderten sind in der Lage schwere körperliche Arbeit darzustellen, aber auch höchste geistige Versunkenheit, es werden schwere Depression und Trauer gespielt und auch Naivität, Freude, Witz, Wankelmut, Streit- und Trunksucht. Es werden aktuellste Probleme von Isolation und Entfremdung differenziert versprachlicht, und in der kleinen Geschichte von den herumirrenden Liebenden, die sich erst im Selbstmordentschluß wiederfinden, werden große Gefühle breiter Spannweite einfühlsam choreographiert und ausgedrückt. Dementsprechend kamen die Darsteller bei der Premiere über zwanzig Minuten nicht von der Bühne, der Beifall wollte und wollte nicht abebben.
Ähnlich wie Gehörlose, wenn sie in der Welt der Hörenden sich zu Wort melden, sehr ungelenk und nur schwer verständlich sprechen, obgleich sie in Gebärdensprache wunderbar kommunizieren, so haben auch diese Behinderten, sobald das Stück vorbei ist, durch ihre unmodulierten und etwas gebrochenen Stimmen, mit denen sie sich bei den Zuschauern bedankten, plötzlich erst wieder den Abstand hergestellt, den sie vorher durch ihr Spiel schon beinahe ganz aufgelöst hatten.
Durch unsere Vorurteile behindert
All denen, die mit Behinderten nur Märchen aufführen und Kinderbücher lesen, sei wärmstens empfohlen, sich dieses Theaterstück anzusehen. Sie können etwas lernen, nämlich daß behinderte Menschen am stärksten durch unsere Vorurteile behindert werden.