Der Konsul – Politisches Kleinstadttheater – Rezension
Das Stralsunder Theater traut sich was. Wo ein politischer Gefangener heute damit rechnen muß, wegen einer antikapitalistischen Bemerkung lebenslang im Gefängnis zu bleiben, kommen in Stralsund regelmäßig revolutionäre Stücke auf die Bühne. Dafür gibt es »Standing ovations«. Im vorigen Jahr beim »Marat« von Peter Weiss, jetzt beim Musikdrama »Der Konsul« von Gian Carlo Menotti.Im »Marat« war viel Volk auf der Bühne, das Theater hatte ein Casting veranstaltet. 40 »Leute von der Straße« verkörperten als Insassen eines Irrenhauses eindrucksvoll das um seine Rechte betrogene Volk. Am Samstag nun hatte das politische Familiendrama »Der Konsul« Premiere. In einer fiktiven Diktatur kommt ein angeschossener Arbeiter zurück in die ärmliche Wohnung zu Frau, Kind und Mutter. Ein geheimes Treffen ist verraten, ein Kamerad getötet worden. Verfolger sind ihm auf den Fersen. Er instruiert die Frau, mit dem schwächlichen Säugling im Konsulat des Landes vorzusprechen, in das er fliehen wird. Kaum ist er weg, dringt ein Agent in die Wohnung ein, bedroht die Frau, drängt sie zum Verrat.
Zwischen Resignation und Entschlossenheit
Die ärmliche Schlichtheit der Wohnung ist stimmig. Die Dramatik des Abschieds, das Schwanken des Mannes zwischen Resignation und Entschlossenheit, die Entwicklung der Frau werden von spannungsgeladener Musik untermalt. Ab dem zweiten Akt spielt das Geschehen im Konsulat vor einer unüberwindlichen Holzbarriere mit hin und herschwingender Tür. Bei einer glänzend interpretierten Sekretärin haben die Bittsteller keine Chance. Das wird mit kafkaesken Szenen verdeutlicht. Dazu die Stimmen der Sänger, die sich vereinzeln, dann wieder zusammenfügen: »Gebt uns die Erde zurück, macht uns frei!« »Was ist ein Ausweis, ist er ein Panzer?« Wieder und wieder werden die Gesuche abgelehnt, die Antragsteller auf den nächsten Tag vertröstet, da fragt die Hauptdarstellerin Anette Gerhardt als Magda: »Müssen wir sterben, weil es zu viele von uns gibt?«
Tief im Osten großes Theater
Man kann eine Nadel im Publikum zu Boden fallen hören, so sehr verstehen alle die aktuelle Bedeutung des Stückes. Regisseur Uwe Drechsel im Programmheft: »Das Stück hat zwei Ebenen, eine private und eine politische. Die politische ist heute so aktuell wie vor 50 Jahren. Nehmen wir die aktuelle Einwanderungsdiskussion, nehmen wir die schikanösen Einreise-Bestimmungen in die USA, nehmen wir die Anerkennung von Asylanträgen. Ich zweifle, ob eine von den handelnden Personen hier in Deutschland heute erfolgreich einen Asylantrag stellen könnte. Die private Ebene ist das Scheitern von Menschen an der Bürokratie und die Auswirkungen dieses Scheiterns auf ihr Leben.« Tief im Osten, wo die Arbeitslosigkeit offiziell 20 Prozent beträgt und inoffiziell sicher doppelt so hoch ist, gibt es großes Theater: einfach, künstlerisch, kein formaler Schnickschnack, keine blutigen Zungen, keine nackten Menschen, die sich auspeitschen – keine Effekte, die über einen Mangel an Aussage hinwegtäuschen sollen. Statt dessen greifen Inhalt und Form ineinander; alles ist Wahrheit, die einen ergreift, aber nicht zum Mitleid verführt. Wahrheit, die einen an der Gurgel packt, das Gehirn klärt und den Sinn vermittelt, den das Sich-Wehren hat.
Nur Befehlsempfänger? Mündung aufs Publikum
Zweimal wird die Mündung einer Pistole direkt aufs Publikum gerichtet. So macht der verwundete, verzweifelte Vater klar: Er wird sich nicht einfach niederschießen lassen. Als Konterpart dieser Figur fungieren im Stück die Bittsteller. Vor der unüberwindlichen Holzbarriere stehen sie und betteln. Sie weinen, sie flehen, sie erklären und bringen Papiere an. Sie glauben der Bürokratie – bis der Agent aus dem Zimmer des Konsuls tritt, den man nie sieht. Die private Geschichte endet traurig. Säugling und Mutter sterben. Die Frau bringt sich um, damit ihr Mann keinen Grund mehr hat, nach Hause zurückzukehren, sich zu gefährden. Auf der politischen Ebene zieht man eine andere Lehre. »Der Agent der Geheimpolizei wird später sagen, er sei nur Befehlsempfänger gewesen, habe immer nur seine Pflicht getan«, schreibt Uwe Drechsel. Den Konsul läßt er nicht auftreten: »Je anonymer er bleibt, um so größer muß seine Macht sein«. Heutige Mächte sind ebenfalls schwer zu bekämpfen, da sie auch anonym bleiben, und doch muß man es tun.
Dieses Theater ist sinnvoller denn je
Kleinstadttheater provinziell? Nicht in Stralsund. Weil CDU und PDS kürzlich das Millionenprestigobjekt einer überflüssigen Stadthalle abgesegnet haben, sind Kürzungen zu erwarten. Ob es je ein Theater in Rostock, Schwerin, Greifswald und Stralsund braucht, wird gefragt. Am Samstag hat das Publikum in Stralsund darüber mit Händen und Füßen abgestimmt. Der Jubel hatte kein Ende. Dieses Theater ist sinnvoller denn je.
Nächste Vorführungen: 11. März, 16 Uhr, Stralsund, 31. März, 19.30 Uhr, Greifswald (Großes Haus)