Wir haben aus unserer Angst eine Kraft gemacht!

in genanet, 2006

Kinderzimmer in Pripjat - TschernobylHeute vor zwanzig Jahren, am 29.4.86 ging ich nachmittags gegen halb sechs zu einem Radierkurs in das Kreuzberger Künstlerhaus. Ich war etwas früher gekommen und lehnte mich im ersten Stock aus dem Fenster: der Himmel war blau, die Sonne schien, alles war friedlich. Ich hatte von dem Unglück in Tschernobyl gehört, aber die Pressemitteilungen waren am Anfang sehr unklar. Das Unglück schien weit entfernt, direkte Auswirkungen würden wir hier kaum spüren können. Trotzdem fühlte ich mich sehr bewegt durch das Wenige, was ich bis dahin gehört hatte. Erst im Laufe des Abends erfasste ich die Katastrophe in seinem vollen Ausmaß. Nun wurde auch das Wort Super-GAU ausgesprochen in den stündlichen Nachrichten der Radiosender. War uns nicht gesagt worden, als wir in früheren Jahren in Brokdorf und Gorleben protestierten, dass so ein GAU nur alle 10.000 Jahre einmal vorkommt?

Radioaktivitätsmelder schlagen aus

Die Radiosender vermittelten uns, dass überhaupt keine Gefahr für die hiesige Bevölkerung bestünde, man habe alles im Griff. Allerdings sei es besser, keinen frischen Salat zu essen und Kräuter aus dem Garten lieber stehen zu lassen. In den nächsten zwei Tagen und Nächten schlief ich kaum und saß nur am Radio. Die Nachrichten überschlugen sich. Freunde erzählten mir, dass im Krankenhaus die Radioaktivitätsmelder, die das Personal an den Kitteln trage, am 26.4. so weit ausgeschlagen hätten, dass man sie für kaputt gehalten habe. Nichts sei mehr messbar gewesen.In den darauffolgenden Tagen hieß es morgens regelmäßig, nun habe man das Problem endlich total im Griff, keinerlei Gefahr sei mehr zu befürchten. Aber abends hieß es dann ebenso regelmäßig, dass Schwangere und Mütter mit Kleinkindern Milch, Salat und den angekündigten Regen meiden sollten und besser zu Hause geblieben wären. Dies erfuhren wir nach einem strahlenden Tag, an dem wir natürlich mit allen Kindern samt Baby draußen auf dem Spielplatz gewesen waren. An einem dieser lauen Frühlingsabende, als wieder einmal zu hören war, dass man besser zu Hause geblieben wären, begriff ich es schlagartig: Nicht nur die Kinder vor Ort, auch meine Kinder waren akut gefährdet. Ich schloss die Fenster, putzte die Wohnung weil ich gehört hatte, dass sich Radioaktivität im Staub ablagert, und begann wütend zu werden. Ich beschloss, mit den Kindern keinen Schritt mehr vor die Tür zu gehen.

Das Radio lief Tag und Nacht

Was sei anders geworden, ab dem 26.4.86, fragt ihr. Alles. Das Radio lief Tag und Nacht. Wir versuchten es vor den Kindern (3 Jahre, 1 Jahr, 5 Monate) möglichst undramatisch erscheinen zu lassen, ich las viel vor in dieser Zeit. Aber wir verbargen es nicht vor ihnen, wir belogen sie nicht. Wir erzählten ihnen, dass draußen etwas passiert sei, was man nicht sehen könne und dass wir etwas dagegen unternehmen würden. Als ich später die Fernsehsender stürmte, sahen unsere Kinder zu und wussten, dass ich gegen das, was da passiert war, kämpfte. Vier Wochen lang traf sich unser Kinderladen in unserer Wohnung. Parallel dazu ließ ich meine Muttermilch untersuchen – das war am dritten Tag nach dem Unfall. Ein neuer Schock, meine Milch war hoch mit Radioaktivität, mit Cäsium belastet. Eine Woche aß ich nichts Frisches mehr und der Wert sank wieder, so dass ich danach weiter stillen konnte.

Milchpulver und Abschaffung aller Atomanlagen

Nach dieser Erfahrung beschloss ich, eine Gruppe Stillender Mütter zu gründen. Es musste auch andere geben, die die gleichen Probleme haben. Siebzig Frauen kamen zu dem ersten Treffen, der Raum war viel zu klein. Wir beschlossen eine Demonstration mit Ärzte- und Hebammenorganisationen zu organisieren mit der Botschaft: sofortige Abschaffung aller Atomkraftwerke. Gleichzeitig forderten wir unbelastete Nahrung aus den Beständen des Berliner Senats für Notzwecke, vor allem das Milchpulver aus den Beständen, weil die Milch extrem hoch belastet war. Wir hatten dann davon gehört, dass sich in Kiel ebenfalls eine Gruppe von betroffenen Müttern gegründet hatte und nahmen Kontakt auf. Bald hatten wir über ganz Deutschland Kontakte zu mindestens zwanzig ähnlichen Gruppen, mit denen wir im nächsten halben Jahr sehr viele Aktivitäten durchführten: gemeinsame Demonstration in Bonn, in Brüssel, zum Europäischen Parlament usw.. Zentrale Forderung war immer: Abschaffung aller Atomkraftwerke und Schutz der Stillenden und Kleinkinder durch Garantie auf unbelastete Nahrung. In Kiel hatten die Gruppen mit Prof. Dr. Wassermann vom Toxikologischen Institut Kontakt, der unser größter Unterstützer in der Wissenschaft wurde und sich dafür sofort den Ruf von Unseriosität einhandelte.

Die Bewegung in Berlin missverstand sich

In Berlin fand die Hebammen- und Ärzte-Demo statt und ich hielt eine Rede, die meine ersten Tage nach dem Unglück beschrieben. Ich stand dabei etwas erhöht auf einem Podium, die Frauen unter mir weinten, während ich sprach, es war ergreifend. Wir haben dann sehr schnell einen Verein gegründet, deren Mitgliederzahl sofort auf 180 Frauen anwuchs. Mit der Idee, einen Warenkorb mit gemessenen Grund-Lebensmitteln mit Chargennummern zu veröffentlichen, hatten wir einen rasanten Mitgliederzuwachs. In den nächsten vier Wochen abonnierten über zweitausend Frauen den Infobrief und finanzierten damit den Warenkorb. So erging es allen anderen Gruppen auch, die Kieler Frauen beispielsweise wuchsen auf sechstausend, die Münchnerinnen auf fünftausend Mitglieder an. In Berlin sollte für eine Strahlenmessstelle gesammelt werden. GRÜNE, die uns nicht kannten, warfen uns vor, dass wir mit unseren Kindern Politik machten, Feministinnen, die uns nicht kannten. warfen uns vor, dass wir unser Muttersein biologisierten. Wir verstanden uns aber von Anfang an als politische Gruppe, die gegen Atomkraft kämpfte. Die Bewegung in Berlin missverstand und spaltete sich.

Nicht die Sprache der Bevölkerung

Dominierend waren die organisierten Bewegungsmenschen, die häufig nicht die Sprache der Bevölkerung sprachen, die natürlich schon immer gegen Atomkraft gewesen waren, aber trotzdem im entscheidenden Moment fanden, dass wir uns affig hätten und hysterisch mit unseren Kindern seien. Sie rissen die Bewegung in Berlin an sich. In anderen Städten dagegen kam es zu sehr guten Bündnissen zwischen den Frauen-/Mütter-/Eltern-Organisationen und fortschrittlichen Wissenschaftlern. Während man dort sein Geld in einen Topf warf und sich gemeinsam in einem Verein organisierte, gab es in Berlin am Ende des Jahres zwei Organisationen: Dank einer Spende von 100.000 DM wurde das Strahlentelex geboren, ein akademisch-wissenschaftliches Heft, in dem auch Messungen mit Chargennummern veröffentlicht wurden, dass von 2 Chemikern herausgegeben wurden, aber keine BI war . Wir versuchten mit allen gut zusammenzu arbeiten, und ließen uns nicht entmutigen. Wir eigneten uns  die kompliziertesten physikalischen Informationen an, wir verbanden die Messwerte von Anfang an mit politischer Aufklärung.

Vom Podium gezerrt

Was mich heute noch erstaunt: Wir stammten aus den verschiedensten Bevölkerungsschichten, unsere einzige Gemeinsamkeit war, dass wir alle Säuglinge hatten, die wir stillten, und kleine Kinder. Es herrschte eine ungeheure Basisdemokratie und enorm viel Elan bei uns, wir arbeiteten Tag und Nacht an Flugblättern, Broschüren, Aufklärungsmaterialien. Es war  wie bei den Frauen von harrisburg, wir bewältigten unsere Angst mit ktivitäten, die sinnvoll waren und Menschen überzeugten! Uns flossen die Ideen nur so zu und wir hatten Erfolg und verschafften uns Einlass, wo immer wir wollten. Ich erinnere mich an eine größere Festivität, die der Senat anlässlich des Geburtstags von Otto Hahn, dem Vater der Atomspaltung, gab. Wir schmuggelten uns dort rein, ich ging zwischen zwei offiziellen Rednern einfach, als wäre es selbstverständlich, auf die Bühne und hielt eine flammende Rede gegen Atomkraft, sprach von Hiroshima, Nagasaki und Tschernobyl. Dann wurde ich von vier Männern vom Podium gezerrt. Viele Presseleute waren damals auf unserer Seite, beklatschten die Aktion.

Anti AKW- mit Anti-Chemie – Initiativen verbinden

Später nahmen wir Kontakt zu Tschernobyl-Hilfsorganisationen auf und gründeten selber welche. Parallel wuchs eine andere Idee: Eltern gegen alle Umweltgifte zu organisieren und die Anti-AKW- mit den Anti-Chemie-Organisationen zu verbinden. 1991 gründete ich den Netzverband „Kind und Umwelt e.V.”, der die Zeitschrift KUM herausgab, Kind und Umwelt Magazin. Die Wende veränderte unsere Aktivitäten, Kontakte zu Umweltschützern aus dem Osten entstanden, aber die Mehrheit der Bevölkerung wurde bald großflächig von anderen Themen bewegt, der erste Irakkrieg 1991, auf den wir mit einer Kinder-gegen den Krieg-Resolution und einer riesigen Veranstaltung reagierten. Unsere Aktivitäten damals halfen, uns nicht ohnmächtig und hilflos zu fühlen Wir haben unseren Kindern ein Beispiel vorgelebt, wie man sich erfolgreich wehren kann., Sie waren, sofern sie es wollten und die Luftwerte es erlaubten, auf allen Demos dabei. Wir haben die Arbeit, die kaum zu bewältigen und zu keinem Zeitpunkt bezahlt war, nicht nur für die Zukunft unserer, sondern aller Kinder getan und hatten dabei ein konkretes Ziel vor Augen: Die Abschaltung und Abschaffung aller Atomkraft, ob “friedlich” oder kriegerisch, weltweit. Wir engagierten uns 1991 vehement gegen den Golfkrieg. Die Strahlenlupe, auch eines unserer späteren Projekte, erreichte zwanzigtausend Menschen, allein in Berlin. 1998 musste ich die Folgezeitung „Kind und Umwelt Magazin“ einstellen, da ich auch mal in einem rentenmäßig abgesicherten Job arbeiten musste. Das ist mir sehr schwer gefallen, wir hatten bis zuletzt an die zweitausend Abonnenten und Interessierte, aber so gut wie keine aktiven Mitglieder mehr.

Was ein Mensch bewirken kann

Unser Leben hat sich extrem durch Tschernobyl verändert. Viele von uns erlebten eine Periode schöpferischster und selbstbestimmtester Arbeit, erwarben Kenntnisse in Organisationsarbeit und Führungsqualitäten. Wir haben kämpferisch gelebt wie nie und die volle Kraft dessen, was ein Mensch bewirken kann, am eigenen Leibe gespürt. Wir  haben unseren Kindern unschätzbar Wertvolles vermittelt, Kraft, Zuversicht und die Gewissheit, dass es sich lohnt, sich zur Wehr zu setzen. Alle Menschen sollten immer so leben, es ist ein schönes Gefühl, etwas gestalten und verändern zu können, etwas bewirkt zu haben. Die heutige  politische Lage schreit auch nach Veränderung, die Verschärfung der sozialen Unterschiede, der Abgrund, der zwischen Ost und West klafft, die Rückwärtsentwicklung, die alles in unserem Staat nimmt, an all dem kann jeder Mensch etwas verändern, durch sinnvolle politische Arbeit, die den Nerv der Zeit trifft, die beflügelt und mit der man etwas bewirkt. Für jeden gibt es eine solche Gelegenheit, immer und überall, man muss sie nur aufgreifen. Da, wo man lebt und arbeitet. Die Welt ist voll solcher Gelegenheiten.  So eine Zeit war es damals für uns, als die Tschernobyl-Katastrophe über uns hereinbrach. Wir haben aus unserer Angst eine Kraft gemacht.

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