Wir lassen uns unsere Angst nicht ausreden – Rede bei der Hebammen-Demonstration Mai 1986 in Berlin
An jenem Sonntag, den 5. Mai 1986, als in Berlin laut TAZ 110 Bq/m3 Luft gemessen wurden, las ich in der Morgenpost einen Artikel mit der Überschrift: „Berlins Hausfrauen lassen sich keine Angst machen, trotz des Atom-Unglücks sind Obst und Gemüse gefragt“. Ich möchte euch hier und heute sagen, was eine Frau in Harrisburg aussprach: „Wir lassen und unsere Angst nicht ausreden!“ Sie haben uns belogen und belügen uns immer noch, die Herren Politiker, die offenbar nur vor einem Angst haben: Vor uns und unserer Entschlossenheit ihre Vernichtungsanlagen nicht mehr länger hinzunehmen. Ich habe drei kleine Kinder unter vier Jahren, von denen ich eines noch stille. Am Mittwoch vor dem 1. Mai war ich mit allen Kindern draußen. Mein jüngstes Kind hatte ich ausgezogen und in die Sonne gelegt. Am Abend erfahre ich „Sensationeller Anstieg der Strahlenwerte in der Luft am Spätnachmittag!“ wie sich der Sprecher geschmackvoll ausdrückt. Der Wert von fünf Becquerel wird genannt. Ein falscher Wert, wie ich später erfahre, 46 Bq wurden in Ostberlin gemessen.
Nicht der geringste Grund zur Besorgnis
Am Donnerstag sinken die Werte, am Freitag auch, wir glauben ihnen. „Nicht der geringste Grund für Besorgnis, die Werte sind gesunken, die Gefahr ist gebannt,“ tönt es aus allen Medien. Freitag und Samstag behalten wir die Kinder noch drinnen, da komme ich mir schon übervorsichtig vor. Am Sonntag lassen wir die Kinder das erste Mal wieder raus. Sonntag Abend um 11 Uhr ruft mich ein Freund an und sagt, dass die Werte am Nachmittag wieder gestiegen waren, später erfahre ich: auf den höchsten Wert überhaupt, nämlich auf 110 Bq/m3 Luft. Ich schreie und ich weine und ich begreife, dass wir dem Ganzen hilflos ausgeliefert werden. Warum sind nicht sofort überall Lautsprecherwagen rumgefahren und haben die Bevölkerung gewarnt rauszugehen, warum sind wir dieser Strahlendosis so umsonst, so vorsätzlich ausgesetzt worden? Ich rufe abwechselnd das HMI [Hahn-Meitner-Institut] und den SFB [Sender Freies Berlin]an. 3 und 5 Bq war das Höchste, was im SFB angesagt wurde, während im HMI von 28 Bq die Rede war. Eine maßlose Wut steigt in mir hoch. Die Werte sollten angeblich immerzu sinken, obwohl sie doch nie gestiegen waren. Der Jod-Wert, der um ein Wesentliches geringer war als der Wert der Gesamtbelastung, wurde immer dann angegeben, wenn der Gesamtwert zu hoch erschien. Immer wenn der Gesamtwert über 10 Bq stieg, wurde nur noch der Jod-Wert genannt. An jenem Sonntag packte mich die Verzweiflung, die Wut und die Angst. Warum wurden die hohen Werte nicht in der Tagesschau gesagt? Es ist etwas undenkbar Furchtbares eingetreten und wir werden nicht informiert, sondern an der Nase herumgeführt.
Wie in Harrisburg: Unbedenklich Milch und Erdbeeren?
Die halbe Nacht wischte ich die Böden, duschte die Schuhe und wusch die Wäsche. Mein jüngstes Kind wachte auf, ich hatte eine volle Brust, aber ich traute mich nicht, ihm die Milch zu geben. Ich weinte. Ich gab ihm nur einige Schlucke und machte ihm dann eine Flasche Milumil. Ich musste an die Frauen in Harrisburg denken. Als dort der Unfall war, wurde den Menschen noch ein Tag vor der Evakuierung gesagt, dass sie unbedenklich Milch trinken und Erdbeeren essen könnten. Danach stieg die Kindersterblichkeit in den folgenden Monaten um 600% an. An diesem Sonntag begriff ich, dass wir uns niemals auf offizielle Verlautbarungen verlassen können, dass unsere Politiker von einer fürchterlichen Panik ergriffen waren, nicht vor der Radioaktivität, nein, vor der Bevölkerung, dass diese aufstehen könnte und sagen: Nein, eine Vernichtungstechnologie wollen wir nicht mehr! Die Tage danach waren schrecklich, jeden Morgen stand ich auf, sah die immer grüner werdenden Bäume, die strahlende Sonne, und dann fiel es mir wieder ein und ich hockte mich vors Radio, oder hängte mich ans Telefon, um die richtigen Werte zu erfahren. Die Welt draußen erschien mir wie ein schreckliches Trugbild. […]
100.000 Folgekranke
Ich glaube wir brauchen keine Angst vor einer Panik der Bevölkerung zu haben, sondern nur Angst vor der Panik der Politiker, die bereit sind, durch ihre Angst um ihre Atomkraftwerke unser Leben aufs Spiel zu setzen. Die Grenzwertdiskussion, die jetzt in Gang gekommen ist, ist ein Witz und ein Schlag ins Gesicht jedes Menschen: Die schon bestehenden Grenzwerte werden willkürlich herausgesetzt, damit für die vergifteten Lebensmittel noch Verkaufschancen bestehen. Wenn ein Kind ein Liter Milch trinkt, die mit 500 Bq Jod 131 belastet ist, so nimmt es die Dosis von 150 milirem auf. Das sei völlig ungefährlich und entspräche einer normalen Röntgenaufnahme. Aber wer würde wohl auf die Idee kommen seinem Kind alle zwei Tage eine Röntgenaufnahme zuzumuten? In den USA sind Langzeitstudien an Kindern durchgeführt worden, deren Mütter in der Schwangerschaft röntgenologisch behandelt worden sind. Bei diesen Kindern zeigte sich eine 40-50%ige Zunahme der Leukämierate bis zu ihrem 10. Lebensjahr.Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass, wenn Wissenschaftler vom sogenannten Restrisiko sprechen, Tschernobyl gemeint ist, wo 100.000 Folgekranke zu erwarten sind, und wenn sie weiter von unwesentlichen statistischen Veränderungen sprechen, damit wir gemeint sind, denn unsere Kinder, unsere Säuglinge werden die Opfer dieses Unfalls sein. Die schädliche Wirkung von Jod-131 auf ein Embryo oder einen Säugling ist 100 Mal größer als auf einen Erwachsenen.
Die Bevölkerung besteht nicht nur aus 70 kg schweren Männern
Die amtlichen Stellen berechnen die für die Bevölkerung zulässigen Werte nach dem, was ein gesunder, erwachsener Mann von 70 kg Körpergewicht verträgt. Aber die Bevölkerung besteht nicht nur aus 70 kg schweren Männern, sondern vor allem aus Frauen und Kindern. Lasst unsere Kinder nicht in der statistischen Anonymität versinken! Lasst uns bis zum Letzten gegen alle Atomanlagen kämpfen! Diese Technik ist nicht beherrschbar! Was die Bevölkerung angeht, so bin ich optimistisch. Trotz ständiger sogenannter Entwarnungen änderten laut Spiegel 85% der Bevölkerung ihre Lebens- und Einkaufsgewohnheiten. Der Leiter des Fruchthofs Berlin spricht von einer 50%igen Verkaufseinbuße bei Obst und Gemüse. Das ist passiver Widerstand, aber es ist Widerstand. Nie war es der Bevölkerung so klar, dass sie belogen und betrogen wird. Wir müssen eine große Bewegung in Gang setzen, an deren Ende die Abschaffung aller Atomanlagen steht, eine andere Wahl haben wir nicht mehr!