Woyzeck – Gefängnistheater AufBruch – Rezension

Dem Gefängnistheater AufBruch ist eine ungeheuer frische Fassung des Woyzecks gelungen.  Es spielt an einem Ort, dem der Dichter, Revolutionär und Autor des 200 Jahre alten Stückes, Georg Büchner unbedingt zugestimmt haben würde, dem Knast.

In diesem Fall der Jugendstrafanstalt Berlin. Da, wo noch heute all diejenigen landen, die ihre Verzweiflung, ihre Deklassiertheit und Ausgeschlossenheit in einem System, in dem der Klassenkampf von oben tobt, obgleich es offiziell als Demokratie gilt, nicht mehr aushalten, nicht mehr bremsen können, und schließlich gewalttätig in die Vertikale explodieren.

Erniedrigung, Degradierung

Das Stück enthält viele Parallelen zu ihrem eigenen Leben, und das ist der Grund, warum es der Regisseur Atanassow sicher für sein Theater „AufBruch- Gefängnistheater“ für die Straftäter im Jugendstrafvollzug ausgewählt hat. Zunächst Gewalterfahrung als Kind, Erniedrigung, dann Tötungsmaschine auf Befehl, zurück mit Verfolgungswahn, Degradierung zum Versuchsobjekt, zum Diener, zum Idioten, zum Tier, das sind so die Stationen in Woyzecks Leben, das dann weitergeht mit dem Versuch, kleines Glück zu halten, dann Eifersucht, schließlich Mord an dem einzigen Menschen, der je zu ihm gehörte, der Frau, die er liebte. Das ist die Story, zu der Büchner durch einen realen Fall inspiriert wurde, den man damals, statt die Bedingungen anzuklagen, mit ererbter Konstitution rechtfertigte und aburteilte.

Verzweiflung wirkt sich vertikal aus

Die Auswirkungen der Klassengesetze schreiend ungleicher Ausgangsbedingungen, auf das Verhalten des Einzelnen, spielt auch heute noch eine Rolle,  zunehmend finden Erklärungsmodelle zurück zum Konstrukt der „ererbten Konstitution“ in Zeiten wachsender Kälte und Ausbeutung. Man bemüht statt Biologie nun die Psychologie, die Neurophysiologie. Die Forschungsergebnisse sind auch heute noch und wieder fragwürdig, weil der Mensch vielfältig ist und sich nicht mittels eines Parameters erklären lässt. Tatsache ist, dass sich Verzweiflung immer noch in vertikaler Gewalt gegen Menschen derselben Schicht auswirkt, wie Atanassow es im Pressegespräch ausdrückte.

Menschen von ganz unten eine Chance geben

In der Regel zeigt allerdings selten einer der Protagonisten seine Gefühle so nackt und bloß, seine Verzweiflung so offen, wie es in der Person Woyzeck durch den jungen Büchner (er starb mit 23 Jahren) künstlerisch gestaltet wird. Dies mit den Menschen zusammen sich angeeignet zu haben, die es betrifft, die auch oft ihre Gefühle der Trauer zugunsten solcher der Abwehr herunterschlucken und in sich runterdrücken, ist das Verdienst vom Gefängnistheater AufBruch. Das Konzept ist hier: Menschen von ganz unten eine Chance geben. Eine künstlerische Ausdrucksfähigkeit entwickeln, die aus einer real erfahrenen sozialen Ausgrenzung entsteht.

Nur nach sieben Wochen Proben, meist nur wenige Stunden in einem arbeitsreichen und durchstrukturiertem Tag fremdbestimmter und der Bestrafung verpflichteter Arbeit, hat ein Team von 8 jungen Männern in der Berliner Jugendstrafanstalt eine sehr gelungene, unter die Haut gehende Fassung des berühmten Werks des revolutionären und selbst deklassierten, von Verfolgung und Gefängnis betroffenen Dichters entwickelt.

Die Aufführung ist äußerst reduziert vom Bühnenbild (Lob an Holger Syrbe) her angelegt, es gibt nur ein Karré von rotgestrichenen Zaunlattenwänden vor schwarzem Hintergrund, auf dem sich alles abspielt. Das geschlossene Karré einer Lebenskraft, die nur in der Wut ihren Ausgang findet.

Äußerst glaubwürdig

Manchmal gibt es Szenen, in denen es mehrere Woyzecks gibt, es sind dies die Soldatenszenen, die Gehorsamsszenen. Überall, wo Woyzeck allein ist, und das ist er oft, im Grunde immer, wird ihm seine Individualität zum Ausgangspunkt von Angst. Allmählich kristallisiert sich dann ein Hauptspieler heraus, ein schmaler, ätherisch wirkender junger Mann, Salah, mit einer extrem tiefen Bass-Stimme. Oft wendet er sich an das Publikum, als wolle er belehren oder Hilfe suchen. Wie er den Psychopathen gibt (seine eigenen Worte) ist äußerst glaubwürdig und gelungen. Zu Beginn sind seine Worte noch schnarrend unsicher, schon nach Kurzem aber ist seine Stimme klar, tief. Sie bekommt in bestimmten Szenen etwas klirrendes, ächzendes, der Schmerz wird fühlbar, der in ihm wühlt.

Daneben sind die Szenen mit seiner Liebsten Marie (Sehr gut gegeben von Jallal, eher mütterlich, etwas dumpf, bäuerlich, gar nicht kokett, wie sonst oft). Wenn Franz Zeit hat, ist er von einer geradezu rührenden Fürsorglichkeit, die sparsam, unbeholfen und doch ehrlich wirkt. Dies selbst, wie auch von Büchner angelegt, bis kurz vor dem Tod und noch nach dem Mord.

Die roten Wände werden bei Szenenwechsel durch Projektionen jeweils in Vorausschau zur nächsten bebildert, Filmaufnahmen vom Aufwachsen von Kindern in Plattenbauvierteln, von der Perspektive der Fabrikhalle, den Maschinen, und dem dunklen Unbekannten der Sehnsucht oder der Verzweiflung, wie in einem Kaleidoskop. Auch eine altertümliche Jahrmarktszene ist dabei, einziger Ort der Ausgelassenheit und des Ausbruchs. Das schafft den Übergang zu heute.

Großartige Mimik und Gestik

Der Tambourmajor wird mit großer Bühnenpräsenz von Jamal gegeben. Dieser junge Mann hat das Zeug zum Filmschauspieler. Säße er nicht im Jugendstrafknast, und wäre nicht in einer arabischen, sondern in einer deutsch-großbürgerlichen Familie groß geworden, so hätte ihn vom Fleck einer von der Filmindustrie abgeworben. Großartige Mimik, großartige Stimme und Sprache, großartige Körperpräsenz und Geschicklichkeit in der Interpretation seiner Rolle, die er nicht so einseitig gibt, wie ich sie leider sehr oft gesehen habe. Er schafft es, den Frauenverführer ohne Arroganz zu geben, er schafft es, das Soldatische weich zu geben, mit anderen Worten, er verleiht seiner Spielfigur Widersprüchlichkeit. Einzigartig die Szene, in der er einen Kosakentanz initiiert sowie sämtliche Lied- und Tanzszenen. Das lebt, das will raus, das strotzt vor Lebenslust, ohne auch nur die kleinste Anzüglichkeit.

Sergeant Waurich hieß das Vieh

Der nächste Hauptdarsteller, der Hauptmann, wunderbar interpretiert von Jihad, wird seinem leitmotivischen Charakter gleich zu Beginn des Stückes sehr gerecht: Er tritt gleich sehr bestimmend auf, ebenfalls mit großer Bühnenpräsenz und starker Stimme, erinnert an Kästner: „Sergeant Waurich hieß das Vieh/ Wer ihn gekannt hat, vergisst ihn nie…“, sein Auftreten ist in seiner Kasernenhof-Mentalität und der Lust Schwächere herabzuwürdigen, entlarvend. Und – überzeugender, als ich es je in deren Woyzeck-Aufführungen sah.   

Sehr gut auch die Lieder und Choreinspielungen, ganz im Sinne Brecht´schen Theaters, wird hier von den Protagonisten mit Hilfe des Lieds und des Tanzens etwas Überbedeutendes ausgedrückt. Das vermittelt sich sehr gut, Unbewusstes und Gewünschtes wird deutlich, der Erzählstrang auf eine andere Ebene gehoben. Herauszuheben sind auch noch die Szenen, die die Tiervergleiche des Hauptmanns sinnlich erfahrbar machen. Ein Mensch wird zum Affen, ein anderer zum Esel, der Affenspieler wandelt sich dabei langsam vom Mensch in einen immer echter wirkenden Affen. Die große Stunde des Spielers Viktor ist gekommen,  der sich sehr überzeugend aus einem folgsamen in ein aufmüpfiges Äffchen verwandelt.

Mut bekommen

Eine wirklich großartige Aufführung, sie steht anderen Woyzeck-Aufführungen mit Profis in nichts nach. Im Gegenteil sogar, man fühlt es durch: Hier genau gehört nach 200 Jahren der große Revolutionär und Dichter Georg Büchner (Friede den Hütten – Krieg den Palästen) hin. Das sind seine Spieler, das ist sein Ort. Wie wäre er stolz, wenn er sehen würde, wie diese Menschen Mut bekommen und wieder Glauben an sich selbst, durch sein Stück. Und wie gewinnt das uralte Stück an Aktualität, an Größe, an Schönheit.

Großes Lob an diejenigen unter den Mitarbeitern und Profis, die sich der Idee widmen, mit Ausgegrenzten Theater zu spielen. Überdeutlich kommt das Politische heraus: Dass wir alle Menschen sind, frei sein und leben wollen, ein kleines Stück Glück leben, in Ruhe und Frieden – selten wird es so deutlich wie in diesem Drama dieses Ensembles. Sehr überzeugend.

Publikum ist hingerissen!

Und was kommt nachher? Nach den paar öffentlichen Aufführungen? Da werden die Jungens, wie sie genannt werden, obgleich sie meist schon über 18 sind, hinaus in die Welt, in das Draußen gehen. Da warten keine Preise auf sie, kein Schauspielteam mit Rollenangeboten, da wartet im besten Fall die Maurerlehre, der Job bei einer Security-Firma, das Jobcenter. Da müssen sie auf sich selbst acht geben, während ein reicher Mann niemals auf sich selbst acht gibt, wenn er anderen Menschen ihre Lebensgrundlagen raubt.

Die Welt ist verbesserungsbedürftig wie damals und die Gewalt stark wie nie. Menschen aber können etwas bewirken, sie können etwas bewegen, sie können die Welt umdrehen und besser machen. Das alles und noch viel mehr zeigt dieses Stück, obgleich es doch ein düsteres Drama ist, scheinbar hoffnungslos.

Schnell hingehen, nur wenige Aufführungen!

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